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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

Diese Doppelstruktur sollte im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong><br />

Stärkung <strong>der</strong> Zentralverwaltung für Volksbildung<br />

aufgelöst werden. Auch das 1949<br />

gegründete M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung<br />

än<strong>der</strong>te an dieser Weichenstellung nichts. Es<br />

organisierte die Vere<strong>in</strong>heitlichung und setzte<br />

den zentralistischen Charakter <strong>der</strong> SED-Ideologie<br />

auf dem Gebiet <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> um.<br />

Durch die Zuordnung <strong>der</strong> Jugendhilfe zur<br />

Volksbildung wurde die Wichtigkeit von<br />

Schule und Ausbildung für die <strong>Heimerziehung</strong><br />

anerkannt und die Bedeutung <strong>der</strong><br />

beruflichen Selbstständigkeit für e<strong>in</strong> wirtschaftlich<br />

selbstbestimmtes Leben berücksichtigt.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs muss dieser Aspekt für<br />

die <strong>DDR</strong> an<strong>der</strong>s als für die Bundesrepublik<br />

bewertet und gewichtet werden. In <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

traten weniger privat-ökonomische Zwänge<br />

auf, weil die planwirtschaftliche Ökonomie<br />

so angelegt war, dass das Verhältnis von<br />

Lebenshaltungskosten und Verdienst selten<br />

zum existenziellen Faktor wurde. Unter<br />

diesen Verhältnissen waren die Möglichkeiten,<br />

auf <strong>der</strong> Basis von Schul- o<strong>der</strong> Berufsausbildung<br />

zu beson<strong>der</strong>em Wohlstand zu<br />

gelangen, ebenso zu vernachlässigen, wie<br />

die Bedrohung durch ökonomisch bed<strong>in</strong>gten<br />

sozialen Abstieg. Deshalb ist es abwegig, die<br />

Zuordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> zum MfV<br />

nur dar<strong>in</strong> begründet zu sehen. Auch die<br />

hohe Zahl von Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die ihre Schulausbildung<br />

nach <strong>der</strong> achten o<strong>der</strong> sechsten<br />

Klasse beenden mussten und anschließend<br />

e<strong>in</strong>en Teilfacharbeiter-Abschluss erwarben,<br />

spricht nicht dafür, dass nur auf ihre spätere<br />

wirtschaftliche Selbstständigkeit beson<strong>der</strong>er<br />

Wert gelegt wurde.<br />

H<strong>in</strong>zu kommt e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Aspekt. Die<br />

Anglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Jugendhilfe an den Bildungsbereich<br />

schaffte nun die Möglichkeit,<br />

dass sich soziale Probleme als Leistungsdefizite<br />

erwiesen und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong><br />

politisch-pädagogischen Diszipl<strong>in</strong>ierung<br />

artikuliert wurden: „Entwicklungsprobleme<br />

haben Jungen und Mädchen, die sich<br />

<strong>in</strong> ihrem Handeln nur unzureichend von<br />

sozialistischen Wertorientierungen leiten<br />

lassen.“ 36 „Abweichungen“, „Schulbummelei“,<br />

36 Topel/Topel, 1983, S. 174.<br />

„Anschluss an negative Gruppen“ – s<strong>in</strong>d<br />

unter dem normativen Blickw<strong>in</strong>kel <strong>der</strong> an<br />

objektivierbaren Leistungskriterien orientierten<br />

„Schule“ eigenverantwortliche und<br />

deshalb selbst verschuldete Probleme. Das<br />

entlastet von Gesellschaftskritik. Der <strong>in</strong><br />

diesem Kontext <strong>in</strong> Umlauf gewesene Merkspruch<br />

„Ke<strong>in</strong>er darf zurückgelassen werden“<br />

verb<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e vielleicht ungewollte dezente<br />

Kritik an dieser Ausrichtung, ohne sich<br />

direkt gegen sie zu wenden. 37<br />

1.2.3 Der Marxismus-Len<strong>in</strong>ismus und die<br />

Erziehung<br />

H<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Idee, dass es nur im Kapitalismus<br />

soziale Probleme gäbe, verbirgt sich e<strong>in</strong> Problemhorizont,<br />

<strong>der</strong> im deutschen Idealismus<br />

beg<strong>in</strong>nt.<br />

Wenn hier weit zurückgegriffen wird, dann<br />

deshalb, weil nach dem „Ende <strong>der</strong> großen<br />

Erzählungen“ (J. F. Lyotard) sich politische<br />

Überzeugen kaum mehr aus philosophischen<br />

Grundsatzentscheidungen ableiten. Dieser<br />

Pragmatismus war <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Ideologie fremd.<br />

Sie griff auf den begrifflichen Selbstwi<strong>der</strong>spruch<br />

e<strong>in</strong>er „wissenschaftlichen Weltanschauung“<br />

zurück, nämlich auf die aus den<br />

Werken von Marx, Engels, Len<strong>in</strong>s abgeleitete<br />

Ideologie des Sozialismus/Kommunismus.<br />

An sie banden sich die grundlegenden<br />

politischen Orientierungen, auch wenn es<br />

offenbleiben kann, ob dies zu bloßen Rechtfertigungszwecken<br />

o<strong>der</strong> als tatsächliche<br />

Handlungsorientierung geschah.<br />

Kants Philosophie hat deutlich gemacht,<br />

dass die Realität <strong>der</strong> Freiheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verwirklichung<br />

von Vernunft besteht. Freiheit<br />

und Vernunft bed<strong>in</strong>gen sich nicht alle<strong>in</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>terpretieren sich wechselseitig.<br />

Die bürgerliche Wohlfahrt kann nur verfolgt<br />

werden, wenn die eigenen Interessen „mit<br />

<strong>der</strong> Freiheit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zusammen bestehen<br />

können“. 38 „Zusammen bestehen“ ist bei Kant<br />

nur e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Ausdruck für die Begrenzung<br />

<strong>der</strong> Eigen<strong>in</strong>teressen durch die Interessen<br />

37 Siehe: Hoffmann, 1981, S. 128; Bernhardt/<br />

Kuhn, 1992; Mannschatz, 1994, S. 39.<br />

38 Kant, 1993, S. 46.<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. Die dazu benötigte Fähigkeit<br />

nannte Kant Vernunft. Er war jedoch nicht<br />

sicher, ob er hier von e<strong>in</strong>er realen politischen<br />

Möglichkeit o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er unrealisierbaren, aber<br />

gleichwohl unabweisbaren For<strong>der</strong>ung spricht.<br />

Hegel gab diesem Problem den Namen<br />

„Entfremdung“ und sah die Geschichte als<br />

Realisierung <strong>der</strong> Selbstmöglichkeit des Geistes,<br />

als Entwicklung zur „Erlösung“ von <strong>der</strong><br />

Entfremdung des Menschen. Entfremdet ist<br />

das Individuum se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft notwendigerweise<br />

dadurch, dass die Freiheit des<br />

e<strong>in</strong>en ihr Bewährungsfeld <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bestreitung<br />

<strong>der</strong> Freiheit des an<strong>der</strong>en f<strong>in</strong>det.<br />

Der Marxismus glaubte die Lösung des<br />

Problems und damit auch die Erlösung <strong>der</strong><br />

Menschheit gefunden zu haben. Nach se<strong>in</strong>em<br />

Verständnis haben die gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse e<strong>in</strong>e den Bewusstse<strong>in</strong>s- und<br />

E<strong>in</strong>stellungs<strong>in</strong>halt determ<strong>in</strong>ierende Rolle<br />

(„Das Se<strong>in</strong> bestimmt das Bewusstse<strong>in</strong>“).<br />

Deshalb muss dieses „Se<strong>in</strong>“ verän<strong>der</strong>t<br />

werden, wenn das Bewusstse<strong>in</strong> verän<strong>der</strong>t<br />

werden soll. Dabei wird die Verän<strong>der</strong>ung des<br />

Se<strong>in</strong>s diejenigen Probleme beseitigen, die als<br />

Ursache für soziale Probleme gelten, und als<br />

solche wurden die Eigentumsverhältnisse<br />

angesehen. Ohne Eigentum ist <strong>der</strong> Grund für<br />

die Konkurrenz <strong>der</strong> Menschen h<strong>in</strong>fällig und<br />

damit auch <strong>der</strong> Anlass für Neid, Gier, Egoismus<br />

– Individualismus. Der Individualismus<br />

ist die Abkürzung für die auf sich gestellte<br />

und von <strong>der</strong> „Gesellschaft“ entfremdete<br />

„Person“, während die „Persönlichkeit“ – „die<br />

allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit“<br />

– frei von Individualismus im Kollektiv<br />

aufgeht.<br />

Das ist zugleich die Begründung dafür,<br />

dass die Erziehungsgeschichte (und auch<br />

die <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong>) <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> mit <strong>der</strong><br />

Enteignung und <strong>der</strong> Bodenreform und <strong>der</strong><br />

Übereignung von Industrie und Boden an das<br />

Volk beg<strong>in</strong>nt. 39 Denn die damit entstandene<br />

39 Bereits vor <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Gründung war e<strong>in</strong> großer<br />

Teil <strong>der</strong> Produktionsmittel konfisziert und bis 1980<br />

war e<strong>in</strong> Großteil des Produktivvermögens und <strong>der</strong><br />

Betriebe <strong>in</strong> „Volksbesitz“. 1945–1946 wurden im<br />

sowjetisch besetzen Teil Bauern mit mehr als 100 ha<br />

Boden enteignet.<br />

Eigentumsfigur (allen gehört alles) bildet die<br />

Grundlage für die Rolle <strong>der</strong> Erziehung auf<br />

dem Weg zum Kommunismus. „Nachdem<br />

die sozial-ökonomischen Wurzeln, denen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> kapitalistischen Ausbeuterordnung die<br />

Krim<strong>in</strong>alität entspr<strong>in</strong>gt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> beseitigt<br />

s<strong>in</strong>d“, geht es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erziehung darum zu<br />

erkennen, dass „die negative Entwicklung <strong>der</strong><br />

jungen Menschen tiefe ideologische Ursachen<br />

hat“. 40 Diese Ursachen müssen beseitigt und<br />

das durch sie geprägte Bewusstse<strong>in</strong> verän<strong>der</strong>t<br />

werden.<br />

Die Bewusstse<strong>in</strong>sverän<strong>der</strong>ung zielte<br />

darauf, die erzieherische Wirkung, die vom<br />

bereits verän<strong>der</strong>ten Se<strong>in</strong> (sozialistische<br />

Gesellschaft) begründet wurde, zu unterstützen.<br />

Wenn Makarenko von <strong>der</strong> Allmacht <strong>der</strong><br />

Erziehung sprach – „Ich b<strong>in</strong> überzeugt von<br />

<strong>der</strong> absolut unbegrenzten Macht <strong>der</strong> pädagogischen<br />

E<strong>in</strong>wirkung (…)“ – , dann me<strong>in</strong>te<br />

er nicht unbegrenzte Handlungsspielräume<br />

o<strong>der</strong> Wirkungsmöglichkeiten geschulter<br />

Pädagogen, son<strong>der</strong>n die Überzeugung, dass<br />

das sozialistische Se<strong>in</strong> bereits die Hauptlast<br />

<strong>der</strong> Erziehung auf den Weg gebracht hat:<br />

„(…) weil es bei uns ke<strong>in</strong>e Umstände gibt, die<br />

<strong>der</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>es Menschen im Wege<br />

stehen.“ 41<br />

Erziehung wird im Marxismus nicht als<br />

<strong>in</strong>tergenerationelle Bemühung verstanden, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Generation ihre normativen Grundlagen<br />

<strong>der</strong> folgenden zu vermitteln versucht,<br />

son<strong>der</strong>n bildete die Absicherung dafür, dass<br />

die revolutionäre Gesellschaftsverän<strong>der</strong>ung<br />

sich auch tatsächlich <strong>in</strong> den Überzeugungen<br />

<strong>der</strong> Menschen abbildete. Sie sollte dazu beitragen,<br />

dass die Versöhnung <strong>der</strong> Menschen –<br />

das Verschw<strong>in</strong>den <strong>der</strong> Interessengegensätze<br />

von Individuum und Gesellschaft – vorangetrieben<br />

wird. Die Versöhnung bildete e<strong>in</strong><br />

neues Bewusstse<strong>in</strong>, das auch „Neuer Mensch“<br />

genannt wurde. Es muss darauf h<strong>in</strong>gewiesen<br />

werden, dass dieser Term<strong>in</strong>us nicht metaphorisch,<br />

son<strong>der</strong>n realistisch verstanden wurde<br />

und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für die <strong>Heimerziehung</strong><br />

40 Informationen zur politisch-operativen Lage<br />

und Situation an den Jugendwerkhöfen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>,<br />

12.12.1963 (BStU MfS HA XX, Nr. 10055).<br />

41 Makarenko, 1964, S. 380.<br />

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