Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
abgezogen. 370 Daneben gab es auch <strong>in</strong> den<br />
Durchgangsheimen die sogenannte „Selbstbedienung“<br />
(Ziff. 8), die nicht entlohnt wurde.<br />
In <strong>der</strong> „Anweisung über die Bildungs- und<br />
Erziehungsarbeit“ aus dem Jahr 1970 wird<br />
erheblich mehr Wert auf die schulische<br />
Ausbildung gelegt: Ab dem zweiten Aufenthaltstag<br />
sollten schulpflichtige K<strong>in</strong><strong>der</strong> und<br />
Jugendliche 24 Wochenstunden Unterricht<br />
erhalten (§ 5 Abs. 2 <strong>der</strong> Anweisung). Jugendliche,<br />
die ihre Schulpflicht erfüllt hatten,<br />
wurden zu Arbeiten herangezogen (§ 7). Alle<br />
Jugendlichen sollten jedoch an e<strong>in</strong>em Tag <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Woche Berufsschulunterricht erhalten<br />
(§ 6). Entlohnt wurde nach den Regelungen<br />
<strong>der</strong> Anordnung über die Spezialheime von<br />
1964 (§ 6 Abs. 2). E<strong>in</strong>e Anweisung aus dem<br />
Jahr 1985, die die Anweisung von 1970 ablöste,<br />
hält dagegen nur noch fest, dass die<br />
allgeme<strong>in</strong>en Bestimmungen über den Unterricht<br />
an die beson<strong>der</strong>en Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />
im Durchgangsheim angepasst werden<br />
sollen. 371<br />
Die Situation <strong>in</strong> den Durchgangsheimen<br />
war beson<strong>der</strong>s problematisch, weil die<br />
Jugendlichen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nur für kürzere<br />
Zeiten blieben und die Belegschaft vom Alter<br />
und den Aufenthaltsgründen her sehr <strong>in</strong>homogen<br />
war. Es wun<strong>der</strong>t daher nicht, dass die<br />
gesetzlichen Vorgaben häufig nicht umgesetzt<br />
werden konnten. In <strong>in</strong>ternen Berichten<br />
wird beispielsweise bemängelt, dass Schulunterricht<br />
<strong>in</strong> Durchgangse<strong>in</strong>richtungen häufig<br />
gar nicht stattfand. 372<br />
370 Sachse 2010, 102, mit Bezug auf die Anweisung<br />
Nr. 2 zur Anwendung <strong>der</strong> Arbeitsrichtl<strong>in</strong>ie für<br />
Durchgangse<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> Jugendhilfe v. 1.6.1965,<br />
BArch DR 2/60997. Das Dokument hat mir nicht<br />
vorgelegen.<br />
371 Anweisung über die Aufgaben und Arbeitsweise<br />
<strong>der</strong> Durchgangsheime <strong>der</strong> Jugendhilfe vom 25.<br />
April 1985 und Sicherheitsbestimmungen. In: BStU<br />
MfS HA IX Nr. 18754, S. 38–46, § 6.<br />
372 Sachse 2010, 172 ff. m. N.<br />
5.3.4 Erziehungs- und Strafmaßnahmen<br />
Zeitzeugen berichten immer wie<strong>der</strong> von<br />
drakonischen Strafregimes <strong>in</strong> Heimen <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong>, von Prügelstrafen, Arrest und entwürdigen<strong>der</strong><br />
Behandlung, Gruppenbestrafungen,<br />
Essensentzug und s<strong>in</strong>nlosen Putz- o<strong>der</strong><br />
Schreibarbeiten. Auch Prüfberichte aus <strong>in</strong>ternen<br />
Heim<strong>in</strong>spektionen zeichnen teilweise<br />
e<strong>in</strong> verheerendes Bild von <strong>der</strong> Behandlung<br />
<strong>der</strong> Zögl<strong>in</strong>ge durch die Erzieher und durch<br />
an<strong>der</strong>e Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>. So listet e<strong>in</strong> Schreiben<br />
des Generalstaatsanwalts an das M<strong>in</strong>isterium<br />
für Volksbildung vom 14. Juni 1966 für<br />
den Zeitraum 1.1.1964 bis 30.6.1965 e<strong>in</strong>e<br />
ganze Reihe gravieren<strong>der</strong> Misshandlungen,<br />
fahrlässiger Körperverletzungen und sogar<br />
neun Fälle fahrlässiger Tötungen <strong>in</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen<br />
und K<strong>in</strong><strong>der</strong>krippen auf (das Dokument<br />
hat mir Dr. Christian Sachse freundlicherweise<br />
zur Verfügung gestellt; es wird im<br />
Anhang zu diesem Gutachten volllständig<br />
dokumentiert), darunter massive Körperverletzungen<br />
(„K<strong>in</strong><strong>der</strong> wurden mit dem Kopf auf<br />
den Fußboden gestoßen“), Demütigungen<br />
(„K<strong>in</strong><strong>der</strong> wurden mit dem Gesicht <strong>in</strong> den<br />
eigenen Kot gedrückt“), Essensverweigerung<br />
und Zwangsernährung (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Fall<br />
mit Todesfolge), kalte Duschen, erschöpfende<br />
Strafmaßnahmen und „Eckenstehen“<br />
(„K<strong>in</strong><strong>der</strong> wurden stundenlang – teils <strong>in</strong><br />
Nachtbekleidung – aus den Zimmern verwiesen.<br />
Sie mußten sich <strong>in</strong> Ecken, Fluren, Kellertreppen,<br />
dunklen Räumen, Schwe<strong>in</strong>eställen<br />
bzw. Bodenkammern aufhalten“).<br />
Das Recht <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> hatte zu diesen Maßnahmen<br />
– an<strong>der</strong>s als das Recht <strong>in</strong> Westdeutschland<br />
im Vergleichszeitraum – durchweg e<strong>in</strong>e<br />
klare Haltung: Körperliche Züchtigung ist<br />
ebenso wenig zulässig wie entwürdigende<br />
Behandlungen. Arrest ist nur unter engen<br />
Grenzen erlaubt. Als zulässige Erziehungsmaßnahme<br />
werden ausdrücklich genannt<br />
die Verwarnung, <strong>der</strong> Tadel und <strong>der</strong> Verweis<br />
(§ 21 HeimO 1969 [Fn. 364], siehe auch Ziff.<br />
9 <strong>der</strong> Anweisung zur Anwendung <strong>der</strong> Arbeitsrichtl<strong>in</strong>ie<br />
für Durchgangse<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe 373 ). In <strong>der</strong> Praxis erlaubt waren<br />
373 Vom 1. Mai 1963, BArch DR 2/60998.<br />
wohl auch <strong>der</strong> Taschengeldentzug, Urlaubsund<br />
Ausgangssperren, Ausschluss von<br />
Veranstaltungen im Heim o<strong>der</strong> außerhalb<br />
des Heims (z. B. K<strong>in</strong>obesuche, Feste), Re<strong>in</strong>igungsarbeiten<br />
und die Selbstkritik vor <strong>der</strong><br />
Gruppe. 374<br />
5.3.4.1 Körperliche Züchtigung<br />
E<strong>in</strong> ausdrückliches Verbot <strong>der</strong> körperlichen<br />
Züchtigung <strong>in</strong> den Heimen <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Heimordnung von 1969<br />
(§ 21 Abs. 4). Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur zur<br />
Jugendhilfe wird ebenfalls schon <strong>in</strong> den<br />
1950er-Jahren darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass die<br />
Prügelstrafe <strong>in</strong> den Heimen verboten sei. 375<br />
Ähnliche Verbote körperlicher Züchtigungen<br />
und ehrverletzen<strong>der</strong> Strafen f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong><br />
den Schulordnungen. 376 Als strafrechtlicher<br />
Rechtfertigungsgrund wird das Züchtigungsrecht<br />
ebenfalls bereits <strong>in</strong> den 1950er-Jahren<br />
nicht mehr akzeptiert: Zwar sei das Züchtigungsrecht<br />
<strong>in</strong> § 1631 BGB noch geregelt,<br />
jedoch gelte diese Regelung ausschließlich<br />
für Eltern und sei auch bei diesen moralisch<br />
abzulehnen und als Erziehungsmethode <strong>in</strong><br />
den Familien zu überw<strong>in</strong>den. 377 Jede Maßnahme<br />
<strong>der</strong> körperlichen Züchtigung durch<br />
Heimerzieher o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Mitarbeiter des<br />
Heimes war folglich ungesetzlich. Dies gilt<br />
auch für die verbreitete Praxis, Prügelstrafen<br />
durch die Gruppe, also die Mitzögl<strong>in</strong>ge, vollstrecken<br />
zu lassen.<br />
Unklar ist die rechtliche Bewertung nach<br />
<strong>DDR</strong>-Recht, wenn es um körperlich schwer<br />
374 Siehe Krause 1954; dazu auch Zimmermann<br />
2004, 336; Sachse 2010, 108.<br />
375 Krause 1954, 13; Redaktion „Neue Erziehung“<br />
1954, Heft 12, 20; Heft 23, 20.<br />
376 § 20 Abs. 1 <strong>der</strong> Schulordnung für die allgeme<strong>in</strong>bildenden<br />
Schulen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> v. 24.5.1951,<br />
M<strong>in</strong>Bl 18/51, abgedruckt <strong>in</strong>: M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung<br />
1953, 320; § 34 <strong>der</strong> Verordnung über die Sicherung<br />
e<strong>in</strong>er festen Ordnung an den allgeme<strong>in</strong>bildenden<br />
Schulen – Schulordnung v. 20.10.1967, GBl. 1967, 769;<br />
§ 32 Abs. 7 <strong>der</strong> Verordnung über die Sicherung e<strong>in</strong>er<br />
festen Ordnung an den allgeme<strong>in</strong>bildenden polytechnischen<br />
Oberschulen – Schulordnung v. 29.11.1979,<br />
GBl. 1979, 433.<br />
377 Deutsches Institut für Rechtswissenschaft<br />
1957, 526.<br />
belastende Strafarten geht, etwa das Stehen<br />
auf dem Flur, das Marschieren o<strong>der</strong> die<br />
extremen Formen des Strafsports, wie sie<br />
<strong>in</strong> Torgau praktiziert wurden. In <strong>der</strong> juristischen<br />
Literatur <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> werden diese<br />
Formen <strong>der</strong> Diszipl<strong>in</strong>ierung nicht erörtert.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs enthielt die Heimordnung von<br />
1969 e<strong>in</strong>e Öffnungsklausel für nicht ausdrücklich<br />
geregelte Strafmaßnahmen. In<br />
§ 21 Abs. 3 hieß es: „Bei Gefährdung <strong>der</strong><br />
Sicherheit des Kollektivs o<strong>der</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />
M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen können bestimmte Maßnahmen<br />
auf <strong>der</strong> Grundlage zentraler Weisungen<br />
e<strong>in</strong>geleitet werden.“ Erläuterungen zu dieser<br />
Vorschrift konnten im Rahmen <strong>der</strong> Arbeit an<br />
diesem Gutachten nicht gefunden werden;<br />
hier ist weitere Forschung erfor<strong>der</strong>lich.<br />
Ebenso müsste <strong>der</strong> Frage weiter nachgegangen<br />
werden, wie wahrsche<strong>in</strong>lich es war, dass<br />
Prügelstrafen im Heim bekannt wurden und<br />
ob sie, wenn sie bekannt geworden waren,<br />
auch geahndet wurden. Hier gibt es Erkenntnisse<br />
über E<strong>in</strong>zelfälle, e<strong>in</strong>e zusammenhängende<br />
Darstellung jedoch fehlt bislang. Die<br />
vorhandenen Erkenntnisse lassen darauf<br />
schließen, dass Verstöße gegen das Prügelverbot<br />
nur selten bekannt wurden, dass sie,<br />
wenn sie bekannt wurden, dies nur selten zu<br />
Konsequenzen gegenüber den betroffenen<br />
Erziehern führte und dass jedenfalls nicht<br />
darüber nachgedacht wurde, das Problem<br />
systematisch, etwa durch verbesserte Rechtsvorschriften<br />
und Kontrollmechanismen<br />
o<strong>der</strong> durch Fortbildungen des pädagogischen<br />
Personals, zu verbessern.<br />
5.3.4.2 Arrest<br />
Die Sanktion des Arrests wurde erst <strong>in</strong> den<br />
1960er-Jahren rechtlich geregelt. Dass es vor<br />
allem <strong>in</strong> Spezialheimen schon <strong>in</strong> den 1950er-<br />
Jahren Arreststrafen gegeben hat, für die es<br />
ke<strong>in</strong>e Rechtsgrundlage gab, ist aus <strong>in</strong>ternen<br />
Prüfberichten bekannt. 378<br />
Speziell für Durchgangsheime wurde im<br />
Jahr 1961 e<strong>in</strong>e vertrauliche Anordnung erlassen,<br />
die e<strong>in</strong>e Isolierung <strong>der</strong> Insassen erlaubte,<br />
378 Vgl. Zimmermann 2004, 339 ff.; Sachse 2010,<br />
172 ff., jeweils m. N.<br />
80 81