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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

im Grunde die gesellschaftlichen Strukturen<br />

<strong>in</strong> sich ab. Diese strukturelle Ähnlichkeit<br />

nährte vermutlich die Illusion, dass e<strong>in</strong><br />

M<strong>in</strong><strong>der</strong>jähriger, <strong>der</strong> gelernt hatte, sich <strong>in</strong><br />

den Heimkollektiven zu bewegen, nun auch<br />

tauglich für das Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Gesellschaft sei.<br />

Die sozialistische Gesellschaft bestand<br />

nach marxistisch-len<strong>in</strong>istischem Verständnis<br />

aus <strong>der</strong> Führung (die Partei, SED), <strong>der</strong> Vorhut<br />

(Arbeiterklasse) und den „Massen“. Faktisch<br />

kam noch die „verschw<strong>in</strong>dend ger<strong>in</strong>ge M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit“<br />

<strong>der</strong> Gegner h<strong>in</strong>zu. Analog waren die<br />

Strukturen des Kollektivs aufgebaut.<br />

Die Führung übernahm im Kollektiv e<strong>in</strong>e<br />

kle<strong>in</strong>e Gruppe, die als „Aktiv“ o<strong>der</strong> auch als<br />

„Kern“ bezeichnet worden ist. Sie unterstützte<br />

den Erzieher, organisierte den Alltagsbetrieb<br />

mit und entfaltete eigene Aktivitäten,<br />

um die Lebensqualität zu verbessern:<br />

„Unter dem Aktiv versteht man alle Zögl<strong>in</strong>ge,<br />

die sich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung und se<strong>in</strong>en Aufgaben<br />

gegenüber positiv verhalten, die <strong>in</strong> den Selbstverwaltungsorganen<br />

mitarbeiten, sich an <strong>der</strong><br />

Leitung <strong>der</strong> Produktion und an den Klub- und<br />

Kulturarbeiten beteiligten.“ 403<br />

Die zum Aktiv gerechneten Mitglie<strong>der</strong><br />

wurden zielgerichtet ausgesucht und mit<br />

begrenzten Privilegien ausgestattet. Makarenko<br />

hatte diese Son<strong>der</strong>rechte streng<br />

limitiert:<br />

„Diese Rechte darf es nur auf folgenden<br />

Gebieten geben: a) erleichterter Ausgang (...); b)<br />

erleichterte Bed<strong>in</strong>gungen für die Aushändigung<br />

des verdienten Lohnes; c) das Recht, bestimmte<br />

Posten und Wahlfunktionen im Kollektiv zu bekleiden;<br />

d) das Recht, das Ehrenzeichen o<strong>der</strong> das<br />

Abzeichen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung zu tragen (...).“ 404<br />

Dem Aktiv entsprach auf politischer Ebene<br />

die Parteiführung. Nicht nur die Insassen,<br />

son<strong>der</strong>n auch die Erzieher waren <strong>in</strong> Kollektive<br />

e<strong>in</strong>gebunden. Wenn möglich, wurde<br />

das Aktiv <strong>der</strong> Erzieher mit SED-Mitglie<strong>der</strong>n<br />

403 Makarenko, 1988, S. 429.<br />

404 Makarenko, 1988, S. 430.<br />

besetzt. In den Kollektiven des Erziehungspersonals<br />

war dies häufig nicht möglich.<br />

Die zweite Kollektivabteilung war die<br />

sogenannte „Reserve“. Makarenko strebte an,<br />

„dass die meisten Zögl<strong>in</strong>ge organisatorisch<br />

als Mitglie<strong>der</strong> des Aktivs erfasst s<strong>in</strong>d“, sodass<br />

er auch Teile des Aktivs als Reserve bezeichnen<br />

kann. 405 Im engeren S<strong>in</strong>ne s<strong>in</strong>d – wie <strong>der</strong><br />

Name es auch ausdrückt – damit diejenigen<br />

bezeichnet, von denen man sich erhoffen<br />

konnte, dass sie <strong>in</strong> Zukunft die Eigenschaften<br />

entwickeln würden, die man vom Aktiv<br />

erwartete. Auf politischer Ebene entsprach<br />

die „Reserve“ den „verbündeten Klassen und<br />

Schichten“, also <strong>der</strong> Mehrheit des Volkes.<br />

Dem sogenannten „Rest“ o<strong>der</strong> „Sumpf“ 406<br />

wurden die K<strong>in</strong><strong>der</strong> zugeordnet, von denen<br />

diese Entwicklung bisher nicht erhofft<br />

werden konnte. Man kann dies <strong>in</strong> Analogie<br />

zu den „Überresten <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft“<br />

auf Personen beziehen, bei denen die<br />

Integrationsbemühungen zu ke<strong>in</strong>em Erfolg<br />

führten und mit denen an<strong>der</strong>s verfahren<br />

werden musste, als mit Aktiv und Reserve.<br />

Wie diese Dreiteilung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis gelebt<br />

wurde, kann nur durch e<strong>in</strong>zelne Beispiele<br />

illustriert werden. „Wöchentlich fertigen die<br />

Erzieher e<strong>in</strong>e Analyse des Kollektivs an (siehe<br />

unten aufgeführte Skizze).“ 407 Die Skizze<br />

zeigt drei Kreise, <strong>in</strong> denen Nachnamen von<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Jugendlichen stehen. Den<br />

„Kern“ dieses Kollektivs bilden zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong>;<br />

neun K<strong>in</strong><strong>der</strong> gehören <strong>der</strong> „Reserve“ an, drei<br />

von ihnen mit Tendenz (Pfeil) zum „Kern“,<br />

zwei mit Tendenz zum „Rest“; <strong>der</strong> „Rest“ besteht<br />

aus e<strong>in</strong>em Heimk<strong>in</strong>d. Die Namen s<strong>in</strong>d<br />

unkenntlich gemacht. 408<br />

Die E<strong>in</strong>stufung als „Rest“ legte die Gefahr<br />

nahe, dass sich die Stimmung <strong>der</strong> Gruppe<br />

gegen e<strong>in</strong>zelne K<strong>in</strong><strong>der</strong> richtete. Erwartet<br />

405 Makarenko, 1988, S. 429.<br />

406 Der Begriff „Sumpf“ stammt von Makarenko<br />

und wurde bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> frühen <strong>DDR</strong> aufgegriffen.<br />

Se<strong>in</strong>e diskrim<strong>in</strong>ierende emotionale Färbung war<br />

wohl beabsichtigt. Vgl. Mannschatz, Eberhard:<br />

Untersuchungen zur Erziehungsorganisation im Heim.<br />

Hrsg.: Universität Rostock, Philosophische Fakultät,<br />

Dissertationsschrift, Rostock 1957, S. 8.<br />

407 (ohne Titel) LAB C Rep. 120, Nr. 2208.<br />

408 Grafik aus: LAB C Rep. 120, Nr. 2208.<br />

o<strong>der</strong> zugelassen wurden kollektive Verurteilungen,<br />

die e<strong>in</strong>en „Lerneffekt“ für die an<strong>der</strong>en<br />

Mitglie<strong>der</strong> des Kollektivs mit sich br<strong>in</strong>gen<br />

sollten. Dieser „pädagogische Prozess“<br />

stand immer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gefahr zu entgleisen<br />

und zog mitunter gewaltsame Racheakte <strong>der</strong><br />

Gruppenmitglie<strong>der</strong> nach sich. Das ist – wie<br />

verschiedene Berichte belegen – auch von Erziehern<br />

toleriert und „erzieherisch genutzt“<br />

worden. In manchen Berichten wurde dieses<br />

Phänomen auch direkt als „Selbstjustiz“<br />

bezeichnet:<br />

„Es häufen sich die Informationen über die<br />

Anwendung <strong>der</strong> Prügelstrafe und an<strong>der</strong>er ehrverletzen<strong>der</strong><br />

Methoden als Ausdruck <strong>der</strong> Hilflosigkeit<br />

<strong>der</strong> Erzieher. In den letzten Wochen wurden<br />

mehrere Diszipl<strong>in</strong>arverfahren wegen <strong>der</strong>artiger<br />

Vergehen e<strong>in</strong>geleitet. In e<strong>in</strong>igen Heimen wurde<br />

aufgedeckt, dass negative Jugendliche an<strong>der</strong>e<br />

Zögl<strong>in</strong>ge terrorisieren. In e<strong>in</strong>igen Fällen führten<br />

diese Handlungen zu schweren Körperverletzungen,<br />

bei e<strong>in</strong>em Jugendlichen bis zum Totschlag.<br />

Mehrfach war festzustellen, dass Erzieher diese<br />

Handlungen stillschweigend duldeten, um auf<br />

diese schädliche Weise e<strong>in</strong>e gewisse äußere Ordnung<br />

zu sichern.“ 409<br />

409 Beschluss des Präsidiums des M<strong>in</strong>isterrates:<br />

Bericht über die Lage <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen und<br />

An<strong>der</strong>e Berichte lassen auf Konflikte schließen,<br />

die aus dem Funktionärssystem herrühren.<br />

In e<strong>in</strong>emBericht über das K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim<br />

Werftpfuhl aus dem Jahr 1968 heißt es<br />

diesbezüglich: „Es s<strong>in</strong>d zwei ‚Pioniere vom<br />

Dienst‘ e<strong>in</strong>geteilt, die auf längere Zeit diese<br />

Funktion ausüben. Dafür wurden ‚durchsetzungsfähige‘<br />

Schüler ausgewählt.“ Die Gefahren<br />

<strong>der</strong>artiger Praktiken wurden im M<strong>in</strong>isterium<br />

für Volksbildung durchaus wahrgenommen.<br />

Im Bericht ist an den zitierten Text<br />

die Frage angefügt: „Kapo-Methoden?“ Die<br />

Zusatzbemerkung wurde freilich von e<strong>in</strong>em<br />

späteren Bearbeiter wie<strong>der</strong> gestrichen, denn<br />

sie verwies zu direkt auf die Erfahrungen <strong>in</strong><br />

Konzentrationslagern und Gefängnissen des<br />

Nationalsozialismus. 410<br />

Auch e<strong>in</strong> Bericht aus dem Jugendwerkhof<br />

Lehn<strong>in</strong> im Jahr 1981 lässt auf Konflikte<br />

schließen, die aus dem Funktionärssystem<br />

herrührten. Berichtet wurde über „Racheakte,<br />

<strong>in</strong> denen die Jugendlichen zur<br />

‚Selbstjustiz‘ griffen und e<strong>in</strong>zelne, die zuvor<br />

Schwächere drangsaliert hatten, ihrer Me<strong>in</strong>ung<br />

nach ‚gerecht‘ bestraften.“ Die beiden<br />

Vorfälle, bei denen zwei Jugendliche zusammengeschlagen<br />

worden waren, waren von <strong>der</strong><br />

Heimleitung zur Anzeige gebracht worden.<br />

Es wurde jedoch ke<strong>in</strong>e Anklage erhoben, „da<br />

die Strafverfolgungsbehörden <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung<br />

waren, daß mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> den Jugendwerkhof<br />

ausreichende Erziehungsmaßnahmen<br />

e<strong>in</strong>geleitet s<strong>in</strong>d.“ 411<br />

Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen mit Schlussfolgerungen zur<br />

grundsätzlichen Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Arbeit <strong>in</strong> diesen<br />

E<strong>in</strong>richtungen (Kollegium des M<strong>in</strong>isteriums für<br />

Volksbildung, Sitzung am 25. Februar 1964, TOP 4).<br />

In: BArch DR 2/7563, S. 217–255.<br />

410 Bericht zur Überprüfung im Heim Werftpfuhl<br />

des Son<strong>der</strong>heimkomb<strong>in</strong>ates <strong>der</strong> Jugendhilfe vom<br />

27. November 1968. In: BArch DR 2/28167.<br />

411 Bericht zur Lage im Jugendwerkhof „Karl<br />

Leonhardt“ <strong>in</strong> Lehn<strong>in</strong> vom 15. Oktober 1981. In:<br />

BArch DR 2/12329.<br />

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