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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Was hilft ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bei <strong>der</strong> Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierung?<br />

nachvollziehbares Weglaufen als „Herumtreiberei“,<br />

nur kurze Fehlzeiten als „Schulbummelei“,<br />

kle<strong>in</strong>ste Delikte als „Rowdytum“ o<strong>der</strong><br />

„asoziales Verhalten.“ H<strong>in</strong>ter diesen Bezeichnungen<br />

steckten oft nur ger<strong>in</strong>ge Anlässe o<strong>der</strong><br />

das oben erwähnte reaktive Verhalten <strong>der</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> auf desolate familiäre Zustände. Die<br />

E<strong>in</strong>weisungsgründe wurden den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und<br />

Jugendlichen auch auf direkte Nachfragen<br />

h<strong>in</strong> meist nicht mitgeteilt. Bei politisch motivierten<br />

E<strong>in</strong>weisungen wurden sogar absichtlich<br />

falsche Gründe genannt, wie z. B. „De<strong>in</strong>e<br />

Eltern wollten dich nicht mehr haben, haben<br />

dich e<strong>in</strong>fach verlassen“, wenn diese <strong>in</strong> die<br />

BRD geflüchtet waren. Über die Bemühungen<br />

<strong>der</strong> Eltern, die Ausreise <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu bewirken,<br />

wurde geschwiegen. Wenn Betroffene<br />

heute ihre Jugendhilfeakte mit <strong>der</strong>artigen<br />

falschen Begründungen lesen, fühlen sie sich<br />

häufig erneut stigmatisiert.<br />

Vielen Berichten <strong>der</strong> ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

ist zu entnehmen, dass häufig zwar aus<br />

nachvollziehbaren Gründen über e<strong>in</strong>e Heime<strong>in</strong>weisung<br />

nachgedacht wurde, dann aber<br />

gegen das K<strong>in</strong>deswohl z. B. e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spezial- statt <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Normalk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim<br />

erfolgte, obwohl Letzteres angebracht<br />

gewesen wäre. Es wurde bei <strong>der</strong> Abwägung<br />

e<strong>in</strong>er Heime<strong>in</strong>weisung durch die Jugendhilfe<br />

<strong>in</strong> diesen Fällen ke<strong>in</strong>e Rücksicht auf die eigentlichen<br />

Probleme o<strong>der</strong> die verständlichen,<br />

teils verzweifelten Reaktionen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

genommen, die „Hilferufe“ <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> nicht<br />

beachtet. Das Augenmerk galt nicht den<br />

eigentlichen Ursachen für die Probleme <strong>der</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n dem „Fehlverhalten“ <strong>der</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>, das durch e<strong>in</strong>e Umerziehung beseitigt<br />

werden sollte. Zum Beispiel wurde e<strong>in</strong><br />

Betroffener 1980 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Jugendwerkhof<br />

statt <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Normalheim e<strong>in</strong>gewiesen, obwohl<br />

bereits e<strong>in</strong> psychologisches Gutachten vorlag<br />

und e<strong>in</strong>e Behandlung erfolgt war. Daraus<br />

g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>deutig hervor, dass die Probleme des<br />

K<strong>in</strong>des durch die familiären Verhältnisse<br />

entstanden waren, es sich also um reaktive<br />

nachvollziehbare Probleme handelte und so<br />

ke<strong>in</strong> Grund für die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spezialheim<br />

vorlag.<br />

E<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> benötigte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat<br />

Hilfe vom Staat, erhielt diese aber nicht <strong>in</strong><br />

angemessener Form. In vielen Fällen hätten<br />

an<strong>der</strong>e, z. B. ambulante Hilfsmaßnahmen<br />

e<strong>in</strong>e bessere Lösung für die betroffenen<br />

K<strong>in</strong> <strong>der</strong> bieten können als e<strong>in</strong>e Heime<strong>in</strong>weisung.<br />

Sachse (2010, 123) schreibt zu diesem<br />

Sachverhalt:<br />

„Tatsächlich versuchten Jugendfürsorger, teils<br />

auch die Schiedskommissionen, Heime<strong>in</strong>weisungen<br />

möglichst zu vermeiden, e<strong>in</strong>e Ausnahme<br />

bildeten die politisch motivierten Kampagnen<br />

gegen die Jugendkulturen. Diese Offenheit<br />

endete aber, sobald e<strong>in</strong> formales Verfahren <strong>in</strong><br />

Gang gesetzt war. Sahen sich die Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />

o<strong>der</strong> die Gerichte zu e<strong>in</strong>er Entscheidung<br />

veranlasst, fiel sie <strong>in</strong> 90 % <strong>der</strong> Fälle zugunsten<br />

e<strong>in</strong>er Heime<strong>in</strong>weisung aus.“<br />

Am folgenden Beispiel soll e<strong>in</strong>e solche Fehlentscheidung<br />

noch e<strong>in</strong>mal deutlich gemacht<br />

werden. E<strong>in</strong>e Betroffene schil<strong>der</strong>t:<br />

„Ich lief ständig von zu Hause weg, da ich dort<br />

verprügelt wurde, nur <strong>in</strong> Angst lebte. Ich bat<br />

die Jugendfürsorge immer um Hilfe. Ich wurde<br />

aber immer wie<strong>der</strong> nach kurzen Heimaufenthalten<br />

nach Hause geschickt. Ich war wie <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Hamsterrad, kam da nicht raus. Mehrfach<br />

war ich auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jugendwerkhof, weil ich<br />

e<strong>in</strong>fach immer wie<strong>der</strong> von zu Hause weglief, das<br />

sahen die als Rumtreiben an. Erst als e<strong>in</strong>e Jugendfürsorger<strong>in</strong><br />

nach mehreren Heimaufenthalten<br />

sich me<strong>in</strong>e Geschichte anhörte und verstand,<br />

mir half, e<strong>in</strong>en eigenen Wohnplatz zu bekommen<br />

und Arbeit zu f<strong>in</strong>den, konnte ich endlich aus dem<br />

Kreis raus und normal draußen leben. Das hatte<br />

ich ja immer gewollt, deshalb klappte alles sofort<br />

gut. Ich b<strong>in</strong> <strong>der</strong> Frau bis heute sehr dankbar,<br />

hätte sie nur gerne früher getroffen.“<br />

Hätte man die Probleme dieser Jugendlichen<br />

frühzeitig aufgegriffen und sie entsprechend<br />

unterstützt, wäre ke<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Heime<strong>in</strong>weisungen<br />

notwendig gewesen, und ihr wäre viel<br />

Leid erspart geblieben.<br />

Die Zuweisungen <strong>in</strong> die verschiedenen<br />

Heimtypen, also Normal- o<strong>der</strong> Spezialheime,<br />

waren aber auch aus an<strong>der</strong>en Gründen nicht<br />

nachvollziehbar und erfolgten offensichtlich<br />

oft nicht nach s<strong>in</strong>nvollen Kriterien.<br />

Entscheidend für die Wahl des Heimtypus<br />

o<strong>der</strong> Ortes waren häufig freie Kapazitäten,<br />

denn es gab durchgängig zu wenige Heimplätze.<br />

„E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d wird <strong>in</strong> den 60er-Jahren<br />

aus re<strong>in</strong>en Kapazitätsgründen <strong>in</strong> das Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim<br />

Pretzsch e<strong>in</strong>gewiesen, obwohl es<br />

ke<strong>in</strong>erlei Verhaltensauffälligkeiten aufwies,<br />

als braves K<strong>in</strong>d bezeichnet wurde und nur<br />

e<strong>in</strong>ige familiäre Probleme bestanden.“ Auf<br />

die Wünsche, Fähigkeiten und das Leistungsvermögen<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> wurde bei <strong>der</strong> Heimzuweisung,<br />

sowohl bezogen auf die Schul- als<br />

auch die Berufsausbildung, kaum Rücksicht<br />

genommen. Die Bildungsmöglichkeiten<br />

wurden durch die jeweiligen unterschiedlichen<br />

Angebote <strong>der</strong> Heime begrenzt, wie<br />

z. B. die Erreichbarkeit e<strong>in</strong>er Klassenstufe.<br />

E<strong>in</strong>e Betroffene sagt über ihre E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>en Jugendwerkhof:<br />

„Ich war sehr gut <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule, immer<br />

Klassenbeste, war bei <strong>der</strong> E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

9. Klasse. In dem Jugendwerkhof gab es ke<strong>in</strong><br />

passendes Schulangebot, deshalb musste ich mit<br />

<strong>der</strong> Schule aufhören und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wäscherei arbeiten,<br />

sollte dort e<strong>in</strong>en Teilfacharbeiterabschluss<br />

machen, das hat mich gar nicht <strong>in</strong>teressiert,<br />

ich wollte doch studieren, das war denen aber<br />

ganz egal. Nach dem Jugendwerkhof war ich so<br />

fertig, dass ich mich nie mehr getraut habe, das<br />

Versäumte nachzuholen, ich habe immer nur<br />

Hilfsarbeiten gemacht.“<br />

Die meisten ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> äußern<br />

e<strong>in</strong> großes Interesse daran, die Gründe<br />

für ihre Heime<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> Erfahrung zu<br />

br<strong>in</strong>gen. Beson<strong>der</strong>s erschwert ist es für diejenigen<br />

unter ihnen, die zum Zeitpunkt <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>weisung noch sehr jung waren und nur<br />

wenig o<strong>der</strong> gar ke<strong>in</strong>en Kontakt mehr zu den<br />

Eltern hatten. Manche Eltern weigern sich<br />

bis heute, über die Heimerfahrungen und<br />

die E<strong>in</strong>weisungsgründe mit ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

zu sprechen. Für viele Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> ist es<br />

aber sehr wichtig, diese Gründe zu erfahren,<br />

denn nur so können sie die Heimzeit <strong>in</strong> ihre<br />

Lebensgeschichte <strong>in</strong>tegrieren und ggf. auch<br />

e<strong>in</strong>en Rehabilitierungsantrag stellen.<br />

Politisch und nicht politisch begründete<br />

E<strong>in</strong>weisungen<br />

In den Veröffentlichungen und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtsprechung<br />

zur Rehabilitierung wird bisher<br />

zwischen „politischen“ und „nicht politischen<br />

E<strong>in</strong>weisungsgründen“ unterschieden, wobei<br />

zu beachten ist, ob die Heimunterbr<strong>in</strong>gung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spezialheim <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em angemessenem<br />

Verhältnis zum Heime<strong>in</strong>weisungsgrund<br />

stand. Aus den Betroffenenberichten wird<br />

deutlich, dass die Zahl <strong>der</strong> sogenannten nicht<br />

politischen Heime<strong>in</strong>weisungsfälle deutlich<br />

höher liegt. Tatsächlich lagen <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

Probleme <strong>in</strong> <strong>der</strong> Herkunftsfamilie vor:<br />

Gewalt-Erfahrungen, sexueller Missbrauch,<br />

Vernachlässigung, Erziehungs- o<strong>der</strong> Versorgungsprobleme<br />

durch überfor<strong>der</strong>te alle<strong>in</strong>erziehende<br />

Eltern (beson<strong>der</strong>s Mütter, die<br />

arbeiten mussten, um die Familie zu ernähren<br />

und nur wenig Unterstützung vom Staat<br />

erhielten). Auch Erkrankungen <strong>der</strong> Eltern,<br />

beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Mütter, führten zu Heime<strong>in</strong>weisungen,<br />

wenn sich <strong>der</strong> Vater mit <strong>der</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>erziehung überfor<strong>der</strong>t fühlte. Ebenso<br />

wirkte sich <strong>der</strong> völlige Verlust <strong>der</strong> Eltern, also<br />

e<strong>in</strong> Waisenstatus, aus. E<strong>in</strong>e Betroffene im<br />

Alter von 47 Jahren berichtet:<br />

„Me<strong>in</strong>e Mutter war Genoss<strong>in</strong>, alle<strong>in</strong>erziehend,<br />

musste sechs K<strong>in</strong><strong>der</strong> versorgen und war<br />

total überfor<strong>der</strong>t. So entstanden bei mir Diszipl<strong>in</strong>probleme<br />

und Konflikte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule. Die<br />

Lehrer waren <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, me<strong>in</strong>e Mutter sei<br />

unfähig, mich zu erziehen. Aber niemand hat sie<br />

unterstützt. Ich war deshalb zwischen 1971 und<br />

1982 <strong>in</strong> vier Heimen, im Durchgangsheim Alt-<br />

Strahlow, im Normalheim-Makarenko und <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Spezialheim. Im Heim wurde die Me<strong>in</strong>ung<br />

vertreten, dass ich mich als Tochter e<strong>in</strong>er Genoss<strong>in</strong><br />

beson<strong>der</strong>s bewähren müsse. Ich versuchte<br />

mehrfach, dem harten Regime des Heimes zu<br />

entfliehen.“<br />

Den Berichten zufolge haben oft ger<strong>in</strong>ge<br />

Anlässe wie trotziges o<strong>der</strong> pubertäres Verhalten<br />

ausgereicht, um Jugendliche als<br />

„schwer erziehbar, asozial, verhaltensauffällig“<br />

zu kategorisieren. In vielen Fällen lagen<br />

nur kle<strong>in</strong>ere Delikte wie Diebstähle von<br />

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