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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

In § 3 Abs. 1 FGB wird die Vorgabe <strong>der</strong><br />

Verfassung aufgegriffen, K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu „aktiven<br />

Erbauern des Sozialismus“ zu erziehen. In<br />

§ 3 Abs. 2 Satz 1 FGB wird die Erziehung <strong>der</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> als „Aufgabe und Anliegen <strong>der</strong> gesamten<br />

Gesellschaft“ bezeichnet. § 42 Abs. 1<br />

FGB 65 enthält explizite Vorgaben an die Ziele<br />

<strong>der</strong> elterlichen Erziehung: Den Eltern wird<br />

aufgegeben, die „bedeutende staatsbürgerliche<br />

Aufgabe“ <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>erziehung so auszugestalten,<br />

dass die K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu patriotischen<br />

und sozialistisch denkenden Staatsbürgern<br />

werden.<br />

Die Vorstellung, Eltern könnten e<strong>in</strong> Abwehrrecht<br />

gegen staatliche E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> die<br />

Erziehung haben, ist dem <strong>DDR</strong>-Familienrecht<br />

fremd (s. o. Kap. 2.7.1.2). Ganz im Gegenteil<br />

werden die Eltern <strong>in</strong> § 42 Abs. 4 FGB dazu<br />

verpflichtet, „zur Gewährleistung e<strong>in</strong>er<br />

e<strong>in</strong>heitlichen Erziehung“ mit <strong>der</strong> Schule und<br />

an<strong>der</strong>en staatlichen Organisationen „eng<br />

und vertrauensvoll“ zusammenzuarbeiten. 66<br />

65 § 42 FGB: „(1) Die Erziehung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> ist<br />

e<strong>in</strong>e bedeutende staatsbürgerliche Aufgabe <strong>der</strong> Eltern,<br />

die dafür staatliche und gesellschaftliche Anerkennung<br />

und Würdigung f<strong>in</strong>den. (2) Das Ziel <strong>der</strong> Erziehung<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> ist, sie zu geistig und moralisch hochstehenden<br />

und körperlich gesunden Persönlichkeiten<br />

heranzubilden, die die gesellschaftliche Entwicklung<br />

bewußt mitgestalten. Durch verantwortungsbewußte<br />

Erfüllung ihrer Erziehungspflichten, durch eigenes<br />

Vorbild und durch übere<strong>in</strong>stimmende Haltung gegenüber<br />

den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n erziehen die Eltern ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

zur sozialistischen E<strong>in</strong>stellung zum Lernen und<br />

zur Arbeit, zur Achtung vor den arbeitenden Menschen,<br />

zur E<strong>in</strong>haltung <strong>der</strong> Regeln des sozialistischen<br />

Zusammenlebens, zur Solidarität, zum sozialistischen<br />

Patriotismus und Internationalismus. (3) Die<br />

Erziehung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> ist untrennbar mit <strong>der</strong> Herausbildung<br />

solcher Eigenschaften und Verhaltensweisen<br />

wie Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und<br />

<strong>der</strong> Achtung vor dem Alter verbunden. Die Erziehung<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> umfaßt auch ihre Vorbereitung zu e<strong>in</strong>em<br />

späteren verantwortungsbewußten Verhalten zur Ehe<br />

und Familie. (4) Die Eltern sollen bei <strong>der</strong> Erfüllung<br />

ihrer Erziehungsaufgaben und zur Gewährleistung<br />

e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen Erziehung eng und vertrauensvoll<br />

mit <strong>der</strong> Schule, an<strong>der</strong>en Erziehungs- und Ausbildungse<strong>in</strong>richtungen,<br />

mit <strong>der</strong> Pionierorganisation ‚Ernst<br />

Thälmann‘ und <strong>der</strong> Freien Deutschen Jugend zusammenarbeiten<br />

und diese unterstützen.“<br />

66 Nach Beyer & Verfasserkollektiv 1970, § 42,<br />

Bereits diese gesetzlichen Formulierungen<br />

zeigen, dass auch im Familienrecht <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

Individual<strong>in</strong>teresse und Gesellschafts<strong>in</strong>teresse<br />

weitgehend <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s gesetzt wurden: 67 Die<br />

Familie wurde geschützt, weil und soweit sie<br />

sozialistische Persönlichkeiten hervorbrachte.<br />

68 Wo ihr dies nicht gelang, hatte <strong>der</strong> Staat<br />

das Recht, die Eltern Maßnahmen <strong>der</strong> Umerziehung<br />

auszusetzen. Konflikte zwischen<br />

Familie und Staat wurden auf diese Weise auf<br />

das falsche Bewusstse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Familienmitglie<strong>der</strong><br />

reduziert. Dieser Anspruch <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

an die Familien wurde zudem gerade<br />

damit begründet, dass die sozialistische<br />

Gesellschaft <strong>der</strong> Familie im Vergleich zum<br />

kapitalistischen System so gute Bed<strong>in</strong>gungen<br />

zur Verfügung stelle. Im Gegenzug könne sie<br />

von den Bürgern, so <strong>der</strong> vom M<strong>in</strong>isterium<br />

<strong>der</strong> Justiz herausgegebene Kommentar zum<br />

FGB, auch „verantwortungsvolles Verhalten<br />

gegenüber Ehe und Familie“ 69 erwarten. Im<br />

Ergebnis genoss die Familie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> folglich<br />

ke<strong>in</strong>en Schutz vor staatlichen E<strong>in</strong>griffen,<br />

son<strong>der</strong>n hatte Pflichten gegenüber <strong>der</strong><br />

Gesellschaft zu erfüllen, <strong>der</strong>en E<strong>in</strong>haltung<br />

überwacht und kontrolliert wurde.<br />

Ziff. 3.3, S. 202 f. gehörte dies zu den zentralen Pflichten<br />

<strong>der</strong> Eltern nach dem FGB.<br />

67 Siehe dazu auch Grandke & Autorenkollektiv<br />

1981, 21: „In <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft stimmen<br />

die Grund<strong>in</strong>teressen <strong>der</strong> Familie mit denen <strong>der</strong><br />

Gesellschaft übere<strong>in</strong>.“ Als identisch wurden auch die<br />

Bildungs<strong>in</strong>teressen von Eltern und Staat (ebd., 150)<br />

und das Wohl des K<strong>in</strong>des und des Staates (Schubert<br />

1955, 4) angesehen. Vgl. auch Coester 1983, 15; Kr<strong>in</strong>ge<br />

1983, 131; Schlicht 1970, 85 m. w. N.; Fiebig 1995, 17.<br />

68 So auch Hoffmann 1981, 88; von Friesen &<br />

Heller 1967, 24; Friedrich-Ebert-Stiftung 1982, 52;<br />

Schlicht 1970, 151; An<strong>der</strong>mann 2003, 100.<br />

69 Beyer & Verfasserkollektiv 1970, § 1, Ziff. 3,<br />

S. 37.<br />

3.2 K<strong>in</strong>dheit und Jugend: Das Ideal <strong>der</strong><br />

sozialistischen Persönlichkeit<br />

E<strong>in</strong>e zentrale Figur, mit <strong>der</strong> die Pflichten<br />

<strong>der</strong> Eltern und K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Gesellschaft beschrieben wurden, war die<br />

„sozialistische Persönlichkeit“. Sie wird –<br />

unabhängig vom Lebensalter – <strong>in</strong> dem 1974<br />

<strong>in</strong> Leipzig erschienenen „Philosophischen<br />

Wörterbuch“ folgen<strong>der</strong>maßen def<strong>in</strong>iert:<br />

„Sozialistische Persönlichkeit ist das sich im<br />

Prozeß <strong>der</strong> gesellschaftlichen Arbeit selbst<br />

gestaltende und entwickelnde Individuum,<br />

das unter <strong>der</strong> Führung <strong>der</strong> marxistischlen<strong>in</strong>istischen<br />

Partei <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaft mit<br />

an<strong>der</strong>en Menschen se<strong>in</strong>en Lebensprozeß <strong>in</strong><br />

ständig wachsendem Maße unter Kontrolle<br />

nimmt und <strong>in</strong> diesem Prozeß se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuellen<br />

Fähigkeiten, se<strong>in</strong>e produktiven Kräfte<br />

immer allseitiger entfaltet.“ 70<br />

Individuelle Persönlichkeitsentfaltung ist<br />

für die „sozialistische Persönlichkeit“ folglich<br />

nur unter <strong>der</strong> Führung <strong>der</strong> marxistisch-len<strong>in</strong>istischen<br />

Partei möglich. Dementsprechend<br />

gehören zu den hervorstechenden Eigenschaften<br />

dieser Persönlichkeit unter an<strong>der</strong>em<br />

auch „e<strong>in</strong> fester sozialistischer Klassenstandpunkt,<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialistischen Ideologie<br />

und Weltanschauung begründet ist und <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> aktiven Parte<strong>in</strong>ahme für den sozialistischen<br />

Staat und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bereitschaft, ihn zu<br />

verteidigen, zum Ausdruck kommt.“ Ohne<br />

staatliche Erziehung auch <strong>der</strong> Erwachsenen<br />

kann dieser Prozess nicht gel<strong>in</strong>gen. Es bedarf<br />

„des bewußten, gesellschaftlich-erzieherischen<br />

E<strong>in</strong>flusses auf die Persönlichkeitsbildung,<br />

<strong>der</strong> Führung und Leitung dieses Prozesses<br />

durch die marxistisch-len<strong>in</strong>istische<br />

Partei, den sozialistischen Staat, die gesellschaftlichen<br />

Organisationen, <strong>der</strong> Kollektive<br />

<strong>der</strong> Arbeit.“<br />

Dementsprechend ist auch das Familienund<br />

Jugendrecht <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> auf die Heranbildung<br />

solcher sozialistischer Persönlichkeiten<br />

70 Klaus & Buhr 1983, 922. Das Werk ist e<strong>in</strong> unverän<strong>der</strong>ter<br />

Nachdruck <strong>der</strong> 10. Aufl. des „Wörterbuchs<br />

<strong>der</strong> Philosophie“, erschienen 1974 im VEB Bibliographisches<br />

Institut Leipzig. Die folgenden Zitate f<strong>in</strong>den<br />

sich ebenda.<br />

gerichtet, die fest zu ihrem Staat stehen. 71<br />

Beson<strong>der</strong>s deutlich zeigt sich dies <strong>in</strong> den<br />

Gesetzen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> 1960er-Jahre<br />

erlassen wurden. So heißt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Präambel<br />

zum Jugendgesetz <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> 72 , die Jugend <strong>der</strong><br />

<strong>DDR</strong> erkenne „den S<strong>in</strong>n ihres Lebens <strong>in</strong> den<br />

Idealen des Sozialismus“ sowie <strong>in</strong> <strong>der</strong> „fleißigen<br />

Arbeit“. In §§ 10 und 11 s<strong>in</strong>d die staatlichen<br />

Jugendorganisationen (Thälmann-<br />

Pioniere, FDJ) sowie die Jugendweihe als<br />

zentrale staatliche Veranstaltungen zur Herausbildung<br />

e<strong>in</strong>er sozialistischen Jugend geregelt.<br />

Konkrete Vorstellungen darüber, wie<br />

e<strong>in</strong>e sozialistische Jugend sich zu verhalten<br />

habe, f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> § 33 Abs. 1 (e<strong>in</strong> Verhalten,<br />

„das den sozialistischen Lebensformen<br />

entspricht“), § 35 Abs. 2 („die Jugend zum<br />

aktiven Kampf gegen den Imperialismus zu<br />

befähigen“; „die Jugend bei <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung<br />

alter überlebter kapitalistischer Gewohnheiten<br />

zu unterstützen“) und § 41 („sie zu e<strong>in</strong>em<br />

hohen Staats- und Rechtsbewußtse<strong>in</strong> zu erziehen“).<br />

Insbeson<strong>der</strong>e die nicht ausdrückliche,<br />

im Alltag aber nachdrückIich geltend gemachte<br />

Pflicht, die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> die staatlichen<br />

Jugendorganisationen zu schicken, wurde<br />

zu e<strong>in</strong>em wirksamen Hebel, um Anpassung<br />

zu erzw<strong>in</strong>gen, da von e<strong>in</strong>em entsprechenden<br />

Engagement beispielsweise die Zulassung zu<br />

weiterführenden Schulen und Universitäten<br />

abhängig gemacht wurde. Eigenständige<br />

Lebensweisen und <strong>in</strong>dividuelle Lebenspläne<br />

wurden nicht akzeptiert, son<strong>der</strong>n als „abweichendes<br />

Verhalten“ bekämpft, krim<strong>in</strong>alisiert<br />

und auch politisiert. Faktisch erreichte die<br />

<strong>DDR</strong>-Führung mit diesem Ansatz bei Eltern<br />

und K<strong>in</strong><strong>der</strong>n e<strong>in</strong> hohes Maß an äußerer Anpassung,<br />

die jedoch vielfach mit e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren<br />

Distanz zum System e<strong>in</strong>herg<strong>in</strong>g. 73<br />

71 Die sozialistische Persönlichkeit als Erziehungsziel<br />

nennen z. B. Grandke u. a. 1979, 345.<br />

72 Vom 4.5.1964, GBl. I, 75, abgedruckt bei<br />

Friesen & Heller 1967, 158 ff.<br />

73 Friedrich-Ebert-Stiftung 1982, 35 f. Siehe<br />

auch Schnei<strong>der</strong> 2004, 190, über die Grenzen <strong>der</strong><br />

von den Regierenden <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> angestrebten<br />

„Erziehungsdiktatur“.<br />

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