Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
6.2 Ausgleich von Folgeschäden durch den<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>fonds<br />
Die vorstehenden Überlegungen haben<br />
gezeigt, dass das StrRehaG auf erheblich<br />
mehr Fälle <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
anwendbar ist, als es heute geschieht. Es<br />
stellt sich die Frage, ob daneben noch Raum<br />
für den Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>fonds bleibt, <strong>der</strong> ebenfalls<br />
an rechtsstaatswidrige Zustände <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Heimerziehung</strong> anknüpft, und wie sich ggf.<br />
das Verhältnis dieser beiden Instrumente <strong>der</strong><br />
<strong>Aufarbeitung</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> darstellt.<br />
6.2.1 Unrechtskriterien des<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>fonds<br />
Der Runde Tisch <strong>Heimerziehung</strong> zieht <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>em Abschlussbericht zwei Bewertungsebenen<br />
für die <strong>Heimerziehung</strong> West <strong>der</strong><br />
1950er-und 1960er-Jahre heran: die zeitgenössische<br />
Rechtslage und das Grundgesetz <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>er heutigen Interpretation. Gerechtfertigt<br />
wird dies folgen<strong>der</strong>maßen: 467 (1) E<strong>in</strong>er juristischen<br />
<strong>Aufarbeitung</strong> von Rechtsverstößen<br />
nach se<strong>in</strong>erzeit geltendem Recht steht zwar<br />
die Verjährung entgegen. Die Verjährung<br />
schafft jedoch das Unrechtsurteil nicht aus<br />
<strong>der</strong> Welt. Es ist also legitim, Zustände, die <strong>in</strong><br />
den 1950er-und 1960er-Jahren rechtswidrig<br />
waren, auch heute noch als Unrecht zu<br />
bezeichnen. (2) Die Orientierung an heutigen<br />
verfassungsrechtlichen Maßstäben wird<br />
damit gerechtfertigt, dass das Rechts- und<br />
Verfassungsverständnis sich gewandelt hat.<br />
Zustände, die <strong>in</strong> den 1950er- und 1960er-<br />
Jahren als rechts- und auch verfassungswidrig<br />
angesehen wurden, können sich aus<br />
heutiger Perspektive als Verstoß gegen wesentliche<br />
verfassungsrechtliche Grundsätze<br />
darstellen.<br />
Das erste Kriterium nimmt die Perspektive<br />
des damals geltenden Rechts e<strong>in</strong>, das zweite<br />
ist e<strong>in</strong>e externe Bewertung aus <strong>der</strong> Rückschau.<br />
Sie än<strong>der</strong>t nichts an <strong>der</strong> Verjährung und erlaubt<br />
daher nur e<strong>in</strong>e außerjuristische <strong>Aufarbeitung</strong><br />
<strong>der</strong> Geschehnisse <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong>.<br />
467 Run<strong>der</strong> Tisch <strong>Heimerziehung</strong> 2010 (Abschlussbericht),<br />
8.<br />
6.2.1.1 Rechtswidrigkeit nach dem<br />
damaligen Recht <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
Die Praxis <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> kann, wie es<br />
auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> selbst geschehen wäre, nach<br />
den zeitgenössischen Maßstäben bewertet<br />
werden. Dazu müssen das positive Recht<br />
zur Zeit des Geschehens und die Auslegung<br />
dieses Rechts zur damaligen Zeit ermittelt<br />
werden. Das Ergebnis dieser Bewertung<br />
lautet folgen<strong>der</strong>maßen: Diese o<strong>der</strong> jene<br />
Praxis wäre auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> als rechtswidrig<br />
bewertet worden. Die historische Forschung<br />
dokumentiert etliche Fälle, <strong>in</strong> denen Rechtswidrigkeit<br />
auch schon nach <strong>DDR</strong>-Maßstäben<br />
vorgelegen hat. Dies demonstrieren vor allem<br />
die zahlreichen Inspektionsberichte aus<br />
Heimen, <strong>in</strong> denen Missstände festgehalten<br />
werden. Insbeson<strong>der</strong>e die Durchführung <strong>der</strong><br />
<strong>Heimerziehung</strong> entsprach über den gesamten<br />
Forschungszeitraum häufig nicht dem gesetzlichen<br />
Anspruch. Dies betrifft vor allem das<br />
Strafregime: Prügelstrafen, entwürdigende<br />
Strafen sowie Arrest über die Vorgaben <strong>der</strong><br />
Arrestordnungen h<strong>in</strong>aus waren <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
nicht erlaubt. Auch die dauerhafte Unterbr<strong>in</strong>gung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Durchgangsheim (länger<br />
als 14 Tage) und die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong>s Heim<br />
ohne Anhörung o<strong>der</strong> Benachrichtigung <strong>der</strong><br />
Eltern o<strong>der</strong> gar vor Erlass des E<strong>in</strong>weisungsbeschlusses<br />
s<strong>in</strong>d Praktiken, die mit geltendem<br />
Recht <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> nicht vere<strong>in</strong>bar waren.<br />
Die Analyse <strong>der</strong> Rechtslage <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> zeigt,<br />
dass viele <strong>der</strong> Zustände und Praktiken <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, und zwar gerade<br />
jene, die von den ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
als beson<strong>der</strong>s ungerecht und schmerzhaft<br />
empfunden wurden, schon gegen das damals<br />
geltende Recht verstießen, ohne dass es<br />
gegen diese Verstöße wirksame Rechtsmittel<br />
o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Kontrollmöglichkeiten gegeben<br />
hätte. Insbeson<strong>der</strong>e für die ehemaligen<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> selbst macht es e<strong>in</strong>en wichtigen<br />
Unterschied, ob sie nach Grundsätzen behandelt<br />
wurden, die schon nach damaligem<br />
Recht nicht zu rechtfertigen waren, o<strong>der</strong> ob<br />
sie sich entgegenhalten lassen müssen, ihre<br />
Erlebnisse hätten dem damals geltenden<br />
Recht entsprochen. Aus diesem Grund ist die<br />
rechts<strong>in</strong>terne Perspektive für die Bewertung<br />
<strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> wichtig. Sie<br />
kann aber nicht <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Maßstab bleiben.<br />
Denn kann man sich aber dem Unwerturteil<br />
e<strong>in</strong>es Staates anschließen, das unter allgeme<strong>in</strong><br />
nicht rechtsstaatlichen Bed<strong>in</strong>gungen<br />
zustande gekommen ist? We<strong>der</strong> gab es <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> e<strong>in</strong>e freie rechtswissenschaftliche o<strong>der</strong><br />
öffentliche Diskussion, noch e<strong>in</strong>e Trennung<br />
und gegenseitige Kontrolle <strong>der</strong> staatlichen<br />
Gewalten, noch freie Wahlen, die den Gesetzen<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> demokratische Legitimation<br />
hätten verleihen können. Als Unrecht wurde<br />
es auch angesehen, wenn die Bürger <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
den Staat verlassen o<strong>der</strong> die Regierung kritisieren<br />
wollten. E<strong>in</strong> Unrechtsurteil, das im<br />
Bereich <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> fast ausschließlich<br />
<strong>in</strong> nichtöffentlichen Dokumenten zum<br />
Ausdruck kam und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis nur selten<br />
zu Konsequenzen führte, ist aus diesen<br />
Gründen von eher zweifelhaftem Wert. Eher<br />
sche<strong>in</strong>t es so zu se<strong>in</strong>, dass aus heutiger Perspektive<br />
nur solche <strong>DDR</strong>-<strong>in</strong>ternen Unrechtsbewertungen<br />
bedeutsam s<strong>in</strong>d, die auch nach<br />
externen Maßstäben als rechtsstaats- o<strong>der</strong><br />
menschenrechtswidrig ersche<strong>in</strong>en. 468<br />
6.2.1.2 Menschenrechtskonforme<br />
Auslegung des <strong>DDR</strong>-Rechts?<br />
Für Taten, die nach 1973 bzw. 1976 begangen<br />
wurden, haben die Strafgerichte <strong>in</strong> den<br />
sogenannten Mauerschützenprozessen die<br />
völkerrechtlichen Menschenrechtsdokumente<br />
herangezogen, denen die <strong>DDR</strong> damals<br />
beigetreten war: die Allgeme<strong>in</strong>e Menschenrechtserklärung<br />
(AEMR), zu <strong>der</strong> die <strong>DDR</strong> sich<br />
mit dem Beitritt zur UNO im Jahr 1973 automatisch<br />
bekannte, und <strong>der</strong> Internationale<br />
Pakt für bürgerliche und politische Rechte<br />
(IPbpR) von 1966, den die <strong>DDR</strong> 1974 ratifizierte<br />
und <strong>der</strong> für sie – wie auch für die Bundesrepublik<br />
– im Jahr 1976 <strong>in</strong> Kraft trat. Die<br />
Gerichte unterziehen das Verfassungs- und<br />
Strafrecht <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> vor dem H<strong>in</strong>tergrund<br />
dieser völkerrechtlichen Verpflichtungen<br />
468 Ähnlich Schwarze, <strong>in</strong>: Potsdamer Kommentar<br />
1997, § 1 StrRehaG Rn. 26, <strong>der</strong> die AEMR und die<br />
EMRK als höherrangige Maßstäbe heranzieht.<br />
e<strong>in</strong>er menschenrechtskonformen Auslegung.<br />
Der Gedankengang ist folgen<strong>der</strong>: Nach Art. 8<br />
<strong>DDR</strong>-Verf. 1968/1974 waren die Grundsätze<br />
des Völkerrechts <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> zu beachten.<br />
Die Menschenrechtsdokumente, denen die<br />
<strong>DDR</strong> beigetreten war, mussten folglich die<br />
Auslegung <strong>der</strong> Verfassung bee<strong>in</strong>flussen.<br />
Geltendes Recht durfte wie<strong>der</strong>um nicht<br />
gegen die Verfassung verstoßen (Art. 89<br />
<strong>DDR</strong>-Verf. 1968/1974). H<strong>in</strong>zu kommt, dass<br />
nach dem StGB von 1968 Verstöße gegen<br />
die allgeme<strong>in</strong>en Menschenrechte und <strong>in</strong>ternationale<br />
Verpflichtungen mit Strafe<br />
belegt waren (§ 95 StGB-<strong>DDR</strong> 1968). Folglich<br />
mussten bei <strong>der</strong> Auslegung des geltenden<br />
Rechts die AEMR und die Internationalen<br />
Pakte berücksichtigt werden. Dieser Weg <strong>der</strong><br />
„menschenrechtskonformen Auslegung“ <strong>der</strong><br />
Strafgerichte entspricht gefestigter Rechtsprechung<br />
und wurde vom BVerfG und dem<br />
EGMR bestätigt. 469<br />
Gegen diese Ansicht lässt sich e<strong>in</strong>wenden,<br />
dass die <strong>DDR</strong> e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Verständnis<br />
<strong>der</strong> Menschenrechte hatte, die menschenrechtsfreundliche<br />
Auslegung im S<strong>in</strong>ne<br />
<strong>der</strong> „westlichen“ Tradition <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> folglich<br />
Rechtsgrundsätze überstülpe, die dort<br />
niemals gegolten hätten. Der BGH br<strong>in</strong>gt<br />
hiergegen wie<strong>der</strong>um vor, dass das geschriebene<br />
Recht <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> sehr wohl e<strong>in</strong>e Anlage<br />
für e<strong>in</strong>e menschenrechtsfreundliche Auslegung<br />
gehabt habe, die nur nicht praktiziert<br />
worden sei. 470 Angesichts <strong>der</strong> auf die<br />
kollektivierte Persönlichkeit ausgelegte und<br />
<strong>in</strong>sofern <strong>in</strong> sich relativ geschlossene Interpretation<br />
<strong>der</strong> Grund- und Menschenrechte,<br />
wie sie oben <strong>in</strong> Kap. 2 dargestellt wurde, lässt<br />
469 BGH, 3.11.1992 – 5 StR 370/92, BGHSt 39,<br />
1–36; bestätigt von BVerfG, 24.10.1996 – 2 BvR 1851,<br />
1852, 1853, 1875/94, BVerfGE 95, 96–143; EGMR,<br />
22.3.2001 – 34044/96, 35532/97 & 44801/98 (Streletz,<br />
Kessler & Krenz v. Germany).<br />
470 BGH, 20.3.1995 – 5 StR 111/94, BGHSt 41,<br />
101–113: „[...] daß <strong>in</strong> dem geschriebenen Recht <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> Möglichkeiten zu e<strong>in</strong>er menschenrechtsfreundlichen<br />
Auslegung angelegt waren. Daß sie überwiegend<br />
nicht wahrgenommen worden s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e menschenrechtsfreundliche<br />
Auslegung den Rechtsanwen<strong>der</strong><br />
vielmehr <strong>in</strong> größte Schwierigkeiten gebracht hätte,<br />
än<strong>der</strong>t daran nichts.“<br />
102 103