Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
Insgesamt fand seit 1951 e<strong>in</strong>e Nivellierung<br />
<strong>der</strong> Lebensumstände <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen E<strong>in</strong>richtungen<br />
statt. In <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> Landjugendheime<br />
stehende Jugendwerkhöfe, die<br />
e<strong>in</strong>e breite handwerkliche Ausbildung und<br />
soziale Absicherung <strong>der</strong> Insassen anboten,<br />
wurden auf zwei angebotene Berufsausbildungen<br />
– zumeist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Industrie und mit<br />
Produktionsauflagen verbunden – reduziert<br />
(z. B. Bräunsdorf, Stolpe). Der schulische<br />
Unterricht wurde bis höchstens zum Abschluss<br />
<strong>der</strong> 8. Klasse (damaliges Ende <strong>der</strong><br />
Schulpflicht) geführt. 220 Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Seite wurden aber auch Jugendwerkhöfe, <strong>in</strong><br />
denen katastrophale Bed<strong>in</strong>gungen herrschten,<br />
unter zentrale Kontrolle genommen<br />
(z. B. Struveshof, Königste<strong>in</strong> 221 ). Im Jahr<br />
1953 wurden die Mittel für die Jugendwerkhöfe<br />
drastisch gekürzt. Als Ausgleich<br />
wurde die E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Selbstversorgung<br />
empfohlen. 222<br />
Die bisher e<strong>in</strong>gesehenen Unterlagen von<br />
Jugendwerkhöfen aus den 1950er-Jahren<br />
erwecken zum<strong>in</strong>dest den E<strong>in</strong>druck, dass die<br />
<strong>in</strong> Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen bereits praktizierte<br />
Pädagogik nach Makarenko wenig Anklang<br />
fand. Vermutlich aus diesem Grund fand<br />
im Jugendwerkhof Römhild unter Leitung<br />
von Eberhard Mannschatz e<strong>in</strong> mehrjähriger<br />
Feldversuch statt, <strong>der</strong> die Tauglichkeit <strong>der</strong><br />
Kollektiverziehung Makarenkos für Jugendwerkhöfe<br />
erweisen sollte. 223 Im Zuge <strong>der</strong> Umstellung<br />
auf die Methoden von Makarenko<br />
wurde <strong>der</strong> Jugendwerkhof an e<strong>in</strong> Betonwerk<br />
220 Verordnung über die Berufsausbildung<br />
und schulische För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Jugendlichen <strong>in</strong> den<br />
Jugendwerkhöfen vom 31. Juli 1952. In: GBl. <strong>DDR</strong>, Nr.<br />
107/1952, S. 695.<br />
221 Materialien über die Auflösung des Jugendwerkhofes<br />
Königste<strong>in</strong> von 1955. In: BArch DR 2/5630<br />
und BArch DR 2/5335.<br />
222 E<strong>in</strong>ige wirtschaftliche Maßnahmen als Voraus<br />
setzung für die Verbesserung <strong>der</strong> Erziehungsarbeit<br />
<strong>in</strong> den Heimen bei gleichzeitiger E<strong>in</strong>sparung von<br />
Haushaltsmitteln (undatiert, 1953). In: BArch DR<br />
2/6218.<br />
223 Pädagogisches Experiment im Jugendwerkhof<br />
„Rudolf Harbig“ <strong>in</strong> Römhild (unvollständig, undatiert,<br />
um 1954). In: BArch DR 2/5568, S. 60.<br />
angeschlossen. 224 E<strong>in</strong> gegenläufiger Trend<br />
f<strong>in</strong>det sich mit dem 1953 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Barackenlager<br />
eröffneten Jugendwerkhof Glowe/<br />
Rügen. Nachdem dort die Pläne für den<br />
Bau e<strong>in</strong>es Kriegshafens aufgegeben worden<br />
waren, wurde e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> primitiven Arbeiterunterkünfte<br />
für zwei Jugendwerkhöfe<br />
genutzt. Aufgelöst wurden im Gegenzug die<br />
nach dem Muster <strong>der</strong> Lan<strong>der</strong>ziehungsheime<br />
e<strong>in</strong>gerichteten Jugendwerkhöfe „Emil Wölk“<br />
und „Makarenko“ im Kreis Strausberg. Auf<br />
<strong>der</strong>en Gelände zogen E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> Kasernierten<br />
Volkspolizei e<strong>in</strong>. 225<br />
Im Zentrum <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen an den<br />
Jugendwerkhöfen stand jedoch die sogenannte<br />
„Arbeitserziehung“, die letztlich dazu<br />
diente, e<strong>in</strong>e gewisse Ref<strong>in</strong>anzierung <strong>der</strong> Jugendwerkhöfe<br />
zu erreichen. Dazu hieß es <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em Entwurf für e<strong>in</strong>e Anordnung: „Je<strong>der</strong><br />
Jugendliche ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Arbeitsverhältnis o<strong>der</strong><br />
Anlernverhältnis <strong>in</strong> den Produktionsstätten<br />
des Jugendwerkhofes o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en<br />
Betriebes zu vermitteln.“ 226 M<strong>in</strong>destalter zur<br />
Verwendung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Produktion war das 14.<br />
Lebensjahr, das zugleich das M<strong>in</strong>destalter<br />
zur Aufnahme <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Jugendwerkhof war.<br />
Die Entlohnung erfolgte nach nichtöffentlichen<br />
Tarifen. Interne Listen zeigen jedoch,<br />
dass die Umstellung <strong>der</strong> Jugendwerkhöfe auf<br />
e<strong>in</strong>e „mo<strong>der</strong>ne Massenproduktion“ 1956 nur<br />
zum Teil gelungen war. Von den 32 Jugendwerkhöfen<br />
waren nur zwei vollständig an<br />
Produktionsbetriebe angeschlossen (Stolpe:<br />
Betonwerk, Mücheln: Braunkohle). Alle an<strong>der</strong>en<br />
verfügten weiter über e<strong>in</strong>e handwerkliche<br />
Ausbildung. 227 Diesen Lehrwerkstätten<br />
wurde durch e<strong>in</strong>e Anordnung von 1956 die<br />
224 Vorlage über die Verbesserung <strong>der</strong> Arbeit <strong>in</strong><br />
den Jugendwerkhöfen (undatiert von Ende 1959). In:<br />
BArch DR 2/5850.<br />
225 Gesamtanalyse für das Gebiet <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
im Jahr 1953 vom 3. Februar 1954. In:<br />
BLHA Rep. 601 RdB Ffo, Nr. 5877.<br />
226 Anordnung über die Verbesserung <strong>der</strong> Arbeit<br />
an den Jugendwerkhöfen (Entwurf 1954/1955). In:<br />
BArch DR 2/5335.<br />
227 Jugendwerkhöfe im Gebiet <strong>der</strong> Deutschen<br />
Demokratischen Republik (undatiert, 1956) (enthält<br />
auch: Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heime). In: BArch DR 2/5571,<br />
S. 295.<br />
Rechtsgrundlage entzogen. 228 E<strong>in</strong>e wenige<br />
Wochen später erlassene neue Verordnung<br />
band alle Jugendlichen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en „s<strong>in</strong>nvollen<br />
und systematischen Arbeitsprozess“ e<strong>in</strong>. 229<br />
Die Bezahlung erfolgte nicht alle<strong>in</strong> nach <strong>der</strong><br />
Leistung, son<strong>der</strong>n auch entsprechend dem<br />
politischen Wohlverhalten. 230<br />
In <strong>der</strong> Folge dieser Umstellungen schnellten<br />
die Zahlen <strong>der</strong> Fluchten („Entweichungen“)<br />
aus den Jugendwerkhöfen <strong>in</strong> die Höhe.<br />
Aus e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternen Untersuchung ist e<strong>in</strong><br />
deutlicher Zusammenhang zwischen den<br />
Ausbrüchen und den Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen<br />
nachweisbar. In <strong>der</strong> Untersuchung heißt es<br />
dazu etwas diffus: „Daraus muß man schlußfolgern,<br />
daß das Ausreißerproblem vor allem<br />
e<strong>in</strong> pädagogisches Problem ist.“ 231 Möglicherweise<br />
ist auch <strong>der</strong> Aufstand im Jugendwerkhof<br />
Struveshof, über den bisher ke<strong>in</strong>e konkreten<br />
Informationen vorliegen, <strong>in</strong> diesem<br />
Zusammenhang zu sehen. 232 Der Jugendwerkhof<br />
Struveshof wurde 1960 aufgelöst. 233<br />
Seit spätestens April 1958 hatten Jugendliche<br />
– neben dem „Heimbeitrag“ <strong>der</strong> Eltern<br />
(seit Juli 1958 133,50 Mark monatlich 234 ) –<br />
ihre Unterkunft mit maximal 120 Mark im<br />
228 Verordnung zur Aufhebung <strong>der</strong> Verordnung<br />
über die Berufsausbildung und schulische För<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Jugendlichen <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen vom 29.<br />
November 1956. In: GBl. <strong>DDR</strong> I, Nr. 109/1956, S. 1328.<br />
229 Anordnung vom 11. Dezember 1956 über die<br />
Durchführung <strong>der</strong> Aufgaben <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen.<br />
In: GBl. <strong>DDR</strong> I, 1956, S. 1336 (Entwurf <strong>in</strong> BArch DR<br />
2/5335).<br />
230 Richtl<strong>in</strong>ien für die Vergütung <strong>der</strong><br />
Jugendlichen <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen vom 11.<br />
Dezember 1956. In: BLHA Rep. 601 RdB Ffo, Nr. 5987.<br />
231 Bericht über Entweichungen aus den<br />
Jugendwerkhöfen A und C vom 29. Oktober 1957. In:<br />
BArch DR 2/5568, S. 4.<br />
232 E<strong>in</strong>e ausführliche Schil<strong>der</strong>ung f<strong>in</strong>det sich<br />
<strong>in</strong> Schikora, 1997, S. 233. E<strong>in</strong>e Bestätigung des<br />
Aufstandes f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> LAB C Rep. 120/144.<br />
233 Auflösung des Jugendwerkhofes Ludwigsfelde<br />
und E<strong>in</strong>richtung des Instituts für Jugendhilfe 1960.<br />
In: BLHA Rep. 401 RdB Pdm, Nr. 3607.<br />
234 Anordnung über die Kostenregelung bei<br />
Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> staatlichen E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong> vom 1. Juni 1958<br />
(Schreiben vom 4. Juli 1958). In: BArch DR 2/5576,<br />
S. 55.<br />
Monat selbst zu bezahlen. 235 Damit trugen<br />
die Betroffenen etwas mehr als die Hälfte des<br />
für Jugendwerkhöfe berechneten Kostensatzes<br />
von ca. 420 Mark pro Platz und Monat.<br />
Die Zahlung des staatlichen K<strong>in</strong><strong>der</strong>zuschlages<br />
entfiel für die Zeit <strong>der</strong> Unterbr<strong>in</strong>gung im<br />
Jugendwerkhof.<br />
Im Jahr 1959 begann e<strong>in</strong>e Kampagne zur<br />
endgültigen Abschaffung <strong>der</strong> handwerklichen<br />
Ausbildung von Jugendlichen <strong>in</strong> den<br />
Jugendwerkhöfen. 236 Von nun an sollten<br />
Jugendliche ausschließlich <strong>in</strong> sogenannten<br />
Anlernberufen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Produktion e<strong>in</strong>gesetzt<br />
werden. In den folgenden Aktivitäten <strong>der</strong><br />
Abteilung Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong> zur<br />
Schaffung von 2.300 Jugendwerkhofplätzen<br />
g<strong>in</strong>g es ausschließlich darum, den Bedarf<br />
<strong>der</strong> Industrie an Arbeitskräften zu decken.<br />
Von <strong>der</strong> Beschäftigung <strong>der</strong> Insassen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Industrie erhoffte sich die Abteilung Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong><br />
des M<strong>in</strong>isteriums für<br />
Volksbildung e<strong>in</strong>e Kostenersparnis bis zu 75<br />
Prozent. Die Jugendlichen hatten die Kosten<br />
für Verpflegung, Unterkunft und Bekleidung<br />
selbst aufzubr<strong>in</strong>gen. 237 E<strong>in</strong>zelne e<strong>in</strong>gesehene<br />
F<strong>in</strong>anzpläne von Jugendwerkhöfen zeigen<br />
jedoch, dass die Ref<strong>in</strong>anzierung maximal e<strong>in</strong><br />
Drittel <strong>der</strong> Kosten erreichte.<br />
Parallel dazu begann e<strong>in</strong>e Kampagne zur<br />
Krim<strong>in</strong>alisierung <strong>der</strong> Jugendmusikkulturen,<br />
<strong>der</strong>en „Rädelsführer“ mit Haft bestraft und<br />
<strong>der</strong>en „Mitläufer“ <strong>in</strong> Jugendwerkhöfe e<strong>in</strong>gewiesen<br />
wurden. 238 Es ist naheliegend, e<strong>in</strong>en<br />
Zusammenhang zwischen beiden Kampagnen<br />
zu sehen. Bisher konnte er aber nicht<br />
anhand von Dokumenten nachgewiesen<br />
werden.<br />
Geplant war 1959, die unmittelbare Umerziehung<br />
<strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen um<br />
235 Anordnung Nr. 2 vom 3. April 1958 über die<br />
Durchführung <strong>der</strong> Aufgaben <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen.<br />
In: GBl. <strong>DDR</strong> I, 1958, S. 352.<br />
236 Thiem, H., 1959, S. 13 f.<br />
237 Mitteilung des Sektors Jugendhilfe vom 19.<br />
März 1960 an Staatssekretär Lorenz die Schaffung von<br />
2.300 zusätzlichen Jugendwerkhof-Plätzen im Raum<br />
Cottbus betreffend. In: BArch DR 2/5850.<br />
238 Information über Bandenbildungen <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>igen Städten <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> vom Juni 1959. In: BArch DR<br />
2/5850.<br />
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