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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

erlassen: 132 Bei Entscheidungen über das<br />

Sorgerecht musste e<strong>in</strong>e „persönliche Verhandlung<br />

mit den Beteiligten“ durchgeführt<br />

werden. Für Entscheidungen über öffentliche<br />

Erziehung mussten Stellungnahmen des<br />

Schul-Elternbeirats, des Pädagogischen Rats<br />

<strong>der</strong> Schule und des Klassenleiters sowie „notwendigenfalls“<br />

auch e<strong>in</strong> ärztliches Gutachten<br />

e<strong>in</strong>geholt werden (§ 3). Der Beschluss musste<br />

begründet und mit e<strong>in</strong>er Rechtsmittelbelehrung<br />

versehen werden (§ 4 Abs. 1). Befolgten<br />

die betroffenen Eltern die Anordnungen im<br />

Beschluss nicht, gaben sie also beispielsweise<br />

ihr K<strong>in</strong>d nicht an die Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />

heraus, konnte <strong>der</strong> Referatsleiter Jugendhilfe<br />

und <strong>Heimerziehung</strong> Ordnungsstrafen bis zu<br />

300 Mark verhängen (§ 4 Abs. 4).<br />

(3) Voraussetzungen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e: Der<br />

Begriff des K<strong>in</strong>deswohls<br />

Nach dem Gesetzeswortlaut hatte e<strong>in</strong>e Anordnung<br />

nach §§ 1666, 1838 BGB folgende<br />

Voraussetzungen: (a) e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> im Gesetz<br />

genannten Fehlverhalten <strong>der</strong> Eltern („Missbrauch“,<br />

„Vernachlässigung“, „ehrloser und<br />

unsittlicher Lebenswandel“), (b) die darauf<br />

beruhende Gefährdung des K<strong>in</strong>deswohls,<br />

(c) das Verschulden <strong>der</strong> Eltern sowie (d) die<br />

Erfor<strong>der</strong>lichkeit <strong>der</strong> Heimunterbr<strong>in</strong>gung.<br />

Anfang <strong>der</strong> 1950er-Jahre löste sich die<br />

Praxis zunächst weitreichend von diesen gesetzlichen<br />

Vorgaben: E<strong>in</strong>e Kommission aus<br />

Vertretern des MfJ, des OG und <strong>der</strong> obersten<br />

StA <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> stellte im Jahr 1950 rechtsverb<strong>in</strong>dliche<br />

Grundsätze für die Behandlung<br />

von Familienrechtsstreitigkeiten auf. 133 Dar<strong>in</strong><br />

heißt es (Ziff. IV.8):<br />

132 § 3 <strong>der</strong> Durchführungsbestimmung zur Verordnung<br />

über die Übertragung <strong>der</strong> Angelegenheiten<br />

<strong>der</strong> freiwilligen Gerichtsbarkeit (Verfahrensregelung<br />

zu § 11) v. 12.3.1953, GBl. 1953.<br />

133 „Rechtsgrundsätze für die Behandlung von<br />

Familienrechtsstreitigkeiten <strong>in</strong> Auslegung <strong>der</strong> Verfassung<br />

<strong>der</strong> Deutschen Demokratischen Republik und des<br />

Gesetzes für den Mutter- und K<strong>in</strong><strong>der</strong>schutz und die<br />

Rechte <strong>der</strong> Frau“ v. 27.9.1950, GBl. 1950, 1037, zitiert<br />

nach Rosenthal, Lange & Blomeyer 1959, 201 ff. (204).<br />

„Bei <strong>der</strong> Anwendung des § 1666 BGB ist<br />

we<strong>der</strong> vorauszusetzen, daß das E<strong>in</strong>greifen<br />

des Vormundschaftsgerichts nur zur Abwehrung<br />

e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>s schweren Gefahr<br />

erfor<strong>der</strong>lich ist, noch kann das E<strong>in</strong>schreiten<br />

des Vormundschaftsgerichts davon abhängig<br />

gemacht werden, daß die Eltern an dem zu<br />

än<strong>der</strong>nden Zustand e<strong>in</strong> Verschulden trifft.<br />

Das Vormundschaftsgericht hat im Interesse<br />

des K<strong>in</strong>des tätig zu werden, wo immer dies<br />

<strong>in</strong> dessen Interesse erfor<strong>der</strong>lich ist, auch<br />

wenn e<strong>in</strong>e spezielle Vorschrift darüber nicht<br />

existiert.“<br />

Mit dieser Vorgabe waren im Grunde alle<br />

Voraussetzungen des § 1666 BGB h<strong>in</strong>fällig<br />

geworden: We<strong>der</strong> musste e<strong>in</strong>e Gefährdung<br />

im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es drohenden Schadens vorliegen,<br />

noch e<strong>in</strong> Verschulden <strong>der</strong> Eltern, noch<br />

mussten Verhältnismäßigkeitserwägungen<br />

angestellt werden. Ganz <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne<br />

erklärte auch das Kammergericht Berl<strong>in</strong><br />

im Jahr 1951 das Erfor<strong>der</strong>nis des Verschuldens<br />

für unnötig: Fortan sollte es alle<strong>in</strong><br />

auf e<strong>in</strong>e objektive Gefährdung des K<strong>in</strong>des<br />

ankommen. Begründet wurde dies mit <strong>der</strong><br />

umfassenden Wächterbefugnis des Staats<br />

über die Erziehung des Nachwuchses. In <strong>der</strong><br />

Urteilsbegründung zeigt sich deutlich, wie<br />

sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> das Erziehungsrecht <strong>der</strong><br />

Eltern h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er staatlich überwachten<br />

Erziehungspflicht verschob. 134 Diese extreme<br />

Entfernung vom Wortlaut <strong>der</strong> Norm wurde<br />

nach <strong>der</strong> Zuständigkeitsreform 1952 jedenfalls<br />

teilweise wie<strong>der</strong> zurückgenommen:<br />

Im Jahr 1953 nennt das M<strong>in</strong>isterium für<br />

Volksbildung im „Handbuch für Jugendhilfe“<br />

die drei Voraussetzungen des § 1666 BGB<br />

wie<strong>der</strong> als verb<strong>in</strong>dliche gesetzliche Vorgaben<br />

für die Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe. 135 Ab<br />

1954 wurde zusätzlich die dem § 1666 BGB<br />

134 KG, 1.3.1951, NJ 5 (1951), 472 (474): „Die<br />

Gesellschaft wacht <strong>in</strong> Gestalt <strong>der</strong> zuständigen Verwaltungs-<br />

und Gerichtsbehörden über die ordnungsgemäße<br />

Erfüllung dieser Erziehungspflicht und gewährt<br />

mit den ihr zu Verfügung stehenden Mitteln die von<br />

Fall zu Fall erfor<strong>der</strong>liche Hilfe, sobald das geistige o<strong>der</strong><br />

leibliche Wohl des K<strong>in</strong>des <strong>in</strong> Gefahr gerät.“<br />

135 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1953, 58.<br />

entsprechende Vorschrift des FGB-Entwurfes<br />

(§ 44 FGB-E136) als Interpretationshilfe herangezogen.<br />

137 Danach waren für den Entzug<br />

des elterlichen Sorgerechts zwei Voraussetzungen<br />

erfor<strong>der</strong>lich: Es musste e<strong>in</strong>e schwere<br />

elterliche Pflichtverletzung vorliegen und<br />

das K<strong>in</strong>deswohl o<strong>der</strong> die wirtschaftlichen<br />

Interessen des K<strong>in</strong>des mussten gefährdet<br />

se<strong>in</strong>. In dieser Vorschrift, die so nie <strong>in</strong> Kraft<br />

trat, zeigt sich <strong>in</strong> Abs. 1 sehr deutlich, dass<br />

die K<strong>in</strong>deswohlgefährdung nicht an den<br />

Belangen und dem Bef<strong>in</strong>den des K<strong>in</strong>des festgemacht<br />

wurde, son<strong>der</strong>n schon dann bejaht<br />

werden konnte, wenn Eltern ihre Pflichten<br />

verletzten. E<strong>in</strong> Verschulden wurde ebenfalls<br />

nicht vorausgesetzt. 138 Wenn man den Kontext<br />

h<strong>in</strong>zuzieht, aus dem deutlich hervorgeht,<br />

dass es als Pflicht <strong>der</strong> Eltern angesehen<br />

wird, ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu staatstreuen Bürgern zu<br />

erziehen, dann kann folglich schon e<strong>in</strong>e oppositionelle<br />

Haltung <strong>der</strong> Eltern als elterliche<br />

Pflichtverletzung und damit als K<strong>in</strong>deswohlgefährdung<br />

<strong>in</strong>terpretiert werden. 139<br />

Des Weiteren wird aber auch deutlich, dass<br />

die Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> zu dieser<br />

Zeit wie<strong>der</strong> dem Verhältnismäßigkeitspr<strong>in</strong>zip<br />

unterlag: Nach § 44 Abs. 2 FGB-E ist sie<br />

nur zulässig, wenn an<strong>der</strong>e Maßnahmen nicht<br />

ausreichen. Diese Vorgabe zieht sich auch<br />

durch die Fachliteratur und kann daher als<br />

136 Abgedruckt <strong>in</strong> NJ 1954, 377. § 44 FGB-E:<br />

„(1) Der Rat des Kreises hat, wenn die Eltern die ihnen<br />

kraft <strong>der</strong> elterlichen Sorge obliegenden Pflichten verletzen<br />

o<strong>der</strong> wenn das Wohl o<strong>der</strong> die wirtschaftlichen<br />

Interessen des K<strong>in</strong>des aus an<strong>der</strong>en Gründen gefährdet<br />

s<strong>in</strong>d, die erfor<strong>der</strong>lichen Anordnungen zu treffen und<br />

für ihre Durchführung zu sorgen. (2) Der Rat des Kreises<br />

kann, wenn an<strong>der</strong>e Maßnahmen nicht ausreichen,<br />

die Unterbr<strong>in</strong>gung des K<strong>in</strong>des <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geeigneten<br />

Familie o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim anordnen. Nötigenfalls<br />

kann <strong>der</strong> Rat des Kreises den Eltern o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Elternteil die elterliche Sorge teilweise entziehen. (3)<br />

Bei schwerster Versäumnis <strong>der</strong> elterlichen Pflichten<br />

kann als äußerste Maßnahme die Entziehung <strong>der</strong><br />

elterlichen Sorge auch <strong>in</strong> vollem Umfange angeordnet<br />

werden. Die Entziehung wird auf Antrag des Kreises<br />

durch das Gericht ausgesprochen.“<br />

137 Schubert 1955, 5; siehe dazu An<strong>der</strong>mann<br />

2003, 157; Brümmer 1980, 70.<br />

138 Artzt 1955, 76.<br />

139 Siehe dazu Artzt 1955, 76.<br />

verb<strong>in</strong>dlicher Grundsatz des <strong>DDR</strong>-<strong>Heimerziehung</strong>srechts<br />

jedenfalls nach 1954 betrachtet<br />

werden. 140 Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d die oben <strong>in</strong> Kap. 2<br />

genannten Unterschiede <strong>in</strong> <strong>der</strong> Interpretation<br />

des Verhältnismäßigkeitspr<strong>in</strong>zips zu<br />

beachten.<br />

Die Verwendung e<strong>in</strong>er noch nicht verabschiedeten<br />

Rechtsnorm – die <strong>in</strong> dieser Form<br />

auch niemals <strong>in</strong> Kraft trat – wi<strong>der</strong>spricht<br />

dem Grundsatz <strong>der</strong> Gesetzesb<strong>in</strong>dung und<br />

auch dem weniger strengen Grundsatz <strong>der</strong><br />

„sozialistischen Gesetzlichkeit“, was aber <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, soweit bekannt, nicht als Problem<br />

angesehen wurde.<br />

Im Übrigen zeigt sich auch an <strong>der</strong> Interpretation<br />

des K<strong>in</strong>deswohlbegriffs nach 1952 die<br />

kollektivistische Ausrichtung auf staatliche<br />

Belange: In e<strong>in</strong>em Aufsatz aus dem Jahr<br />

1955 141 bekräftigt die Kreisreferent<strong>in</strong> für Jugendhilfe<br />

und <strong>Heimerziehung</strong> Schubert die<br />

<strong>in</strong> Kap. 2 bereits erwähnte Auffassung, dass<br />

<strong>in</strong> dem neuen sozialistischen Staatswesen<br />

nicht auf die alte, bürgerlich-kapitalistischen<br />

Zwecken dienende Auslegung des K<strong>in</strong>deswohlbegriffs<br />

zurückgegriffen werden könne.<br />

In Bezug auf das K<strong>in</strong>deswohl betont sie anschließend<br />

die Identität staatlicher und <strong>in</strong>dividueller<br />

(hier: <strong>der</strong> k<strong>in</strong>dlichen) Interessen. 142<br />

Das Wohl des K<strong>in</strong>des wird sodann zunächst<br />

unpolitisch konkretisiert durch die Merkmale<br />

„Sicherung aller Rechte des K<strong>in</strong>des“,<br />

„Schutz se<strong>in</strong>er Persönlichkeit“, „Durchsetzung<br />

se<strong>in</strong>es Rechts auf e<strong>in</strong>e gesunde<br />

Entwicklung“, „bestmögliche Entwicklung<br />

und Entfaltung aller se<strong>in</strong>er Anlagen“ sowie<br />

„Teilnahme am gesellschaftlichen Leben“. Die<br />

gesellschaftliche Vere<strong>in</strong>nahmung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

und ihrer Familien wird erst <strong>in</strong> den weiteren<br />

Überlegungen deutlich: Die Jugendhilfe<br />

müsse sich beständig fragen, bei wem das<br />

K<strong>in</strong>d die besten Möglichkeiten fände, <strong>in</strong> die<br />

Gesellschaft h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuwachsen – wozu dann<br />

140 Vgl. dazu auch schon M<strong>in</strong>isterium für<br />

Volksbildung 1953, 39 (zu § 1666 BGB, § 63 RJWG:<br />

Herausnahme aus <strong>der</strong> Familie als letztes Mittel).<br />

141 Schubert 1955.<br />

142 Schubert 1955, 5: „In <strong>der</strong> Deutschen Demokratischen<br />

Republik ist das Wohl des K<strong>in</strong>des und das<br />

Wohl des Staates untrennbar verbunden.“<br />

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