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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> an das M<strong>in</strong>isterium für<br />

Volksbildung se<strong>in</strong>en strukturellen Ausdruck<br />

und verdichtet sich begrifflich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rede<br />

vom „neuen Menschen“.<br />

1.2.6.4.1 Erziehung versus Vererbung<br />

Die Idee <strong>der</strong> „Umorientierung“ hat e<strong>in</strong>en wissenschaftstheoretischen<br />

H<strong>in</strong>tergrund, <strong>der</strong><br />

hier kurz angeschnitten werden soll.<br />

Der sowjetische Biologe Lyssenko, seit 1940<br />

Direktor des Instituts für Genetik an <strong>der</strong><br />

Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften <strong>der</strong> UdSSR,<br />

lehnte die alle<strong>in</strong>ige Vererbung durch genetische<br />

Eigenschaften als antisozialistisch<br />

und undialektisch ab. Er stellt ihr die These<br />

von <strong>der</strong> Vererbung <strong>der</strong> durch Erziehung<br />

erworbenen Eigenschaften zur Seite. E<strong>in</strong>er<br />

se<strong>in</strong>er Anhänger war Josef Stal<strong>in</strong>, sodass<br />

diese Lehre zeitweilig Teil <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Staatsideologie wurde. Georg Lukács nannte<br />

diese Lehre (1960) die „dialektische Weiterentwicklung“<br />

Darw<strong>in</strong>s und entdeckte <strong>in</strong> ihr<br />

die „wirkliche Entwicklungslehre“. 78<br />

Diese Lehre bildete <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> den H<strong>in</strong>tergrund<br />

für den bis m<strong>in</strong>destens <strong>in</strong> die 1980er-<br />

Jahre offen geführten Kampf gegen „biologistische<br />

Tendenzen“ <strong>der</strong> bürgerlichen Pädagogik,<br />

das als „Geschwätz vom abstrakten<br />

Humanismus“ zurückgewiesen wurde. 79 Der<br />

Vorwurf lautete, dass die vom genetischen<br />

Determ<strong>in</strong>ismus geprägte bürgerliche Pädagogik<br />

die Erziehbarkeit des Menschen verne<strong>in</strong>t<br />

und damit <strong>der</strong> Bemühung um die Entwicklung<br />

des Kommunismus die Erfolgsmöglichkeit<br />

bestreitet. Gefühle s<strong>in</strong>d z. B. nicht<br />

„vorrangig biologisch angelegt“, son<strong>der</strong>n sie<br />

s<strong>in</strong>d „weitgehend erfahrungsbed<strong>in</strong>gt“, sodass<br />

man „staatsbürgerliche(n) Gefühle(n)“ anerziehen<br />

kann 80 . Diese Möglichkeit wird von<br />

<strong>der</strong> bürgerlichen Psychologie bestritten, dort<br />

wird <strong>der</strong> „biologische Faktor“ verabsolutiert,<br />

und die „psychische Entwicklung“ vollzieht<br />

sich „im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er bloßen Entfaltung“ <strong>der</strong><br />

„<strong>in</strong> <strong>der</strong> Erbmasse vorgegebenen Merkmale<br />

und Eigenschaften“. Diese Auffassung wird<br />

78 Lukács, 1960, S. 29.<br />

79 Malkowa, 1974, S. 164 u. 165.<br />

80 Topel/Topel, 1983, S. 173 f.<br />

als falsch abgelehnt, denn „die Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Persönlichkeit wird durch die Vererbung<br />

nicht bestimmt.“ 81 Mit ähnlicher Begründung<br />

ist Sigmund Freud aussortiert worden<br />

(„b<strong>in</strong>nenpsychologischer [mechanizistischer]<br />

Determ<strong>in</strong>ismus“). Se<strong>in</strong>e Psychologie<br />

sei unwissenschaftliches Nachwirken <strong>der</strong><br />

romantisch-bürgerlichen Philosophie und<br />

selbst e<strong>in</strong> „gesellschaftliches Phänomen<br />

se<strong>in</strong>er Epoche“. 82<br />

Die Berufung auf die „wissenschaftliche<br />

Weltanschauung“ 83 drückte zwar e<strong>in</strong>erseits<br />

die generelle Ablehnung von Wissenschaft<br />

aus, an<strong>der</strong>erseits waren die Marxisten <strong>in</strong><br />

positivistischer Weise wissenschaftsgläubig.<br />

Für wissenschaftlich hielten sie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

das, was sich dem naturwissenschaftlichen<br />

Gesetzesbegriff anlehnen ließ, jedenfalls<br />

solange dies nicht dem Parteiprogramm<br />

wi<strong>der</strong>sprach.<br />

Die <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne „wissenschaftliche“<br />

Grundlage <strong>der</strong> Pädagogik musste deshalb<br />

sowohl den Erfor<strong>der</strong>nissen des Erziehungsoptimismus<br />

entsprechen (also gegen genetische<br />

o<strong>der</strong> psychologische Determ<strong>in</strong>ation<br />

se<strong>in</strong>) als auch „naturwissenschaftlich“ se<strong>in</strong><br />

(also nicht bürgerlich-idealistisch). Diese<br />

Aufgabe erfüllte die Verhaltenstheorie des<br />

sowjetischen Physiologen Pawlow.<br />

1.2.6.4.2 Reflex und Erziehung<br />

Die Pawlow‘sche Reflexlehre ist sprichwörtlich.<br />

Weniger bekannt ist ihr E<strong>in</strong>fluss auf<br />

die Pädagogik. Der E<strong>in</strong>fluss dieser Lehre<br />

auf die <strong>DDR</strong>-Pädagogik wird nicht im S<strong>in</strong>ne<br />

<strong>der</strong> Anwendung o<strong>der</strong> Umsetzung physiologischer<br />

Annahmen auf den Erziehungsprozess<br />

zu verstehen se<strong>in</strong> – gleichwohl es<br />

Empfehlungen dazu gegeben hat. 84 Er lässt<br />

aber das Vokabular und die dar<strong>in</strong> ausgedrückten<br />

Vorstellungen darüber, wie sich<br />

81 Vier, 1965, S. 82.<br />

82 Klaus/Buhr, 1976, S. 991 f.<br />

83 „Die marxistisch-len<strong>in</strong>istische Ideologie,<br />

die e<strong>in</strong> streng wissenschaftliches Weltbild liefert,<br />

bildet die feste methodologische Grundlage für die<br />

sozialistische Pädagogik” (Malkowa, 1974, S. 162).<br />

84 Siehe Nebylizyn, 1961; und Fa<strong>in</strong>berg, 1961.<br />

Umerziehungsverän<strong>der</strong>ungen bewirken<br />

lassen, verständlich werden.<br />

Der Zusammenhang wird im Abschnitt<br />

„5. Pädagogische Führung im Erziehungsprozess“<br />

<strong>der</strong> bereits erwähnten Publikation<br />

„<strong>Heimerziehung</strong>“ entwickelt. Nachdem <strong>in</strong><br />

Abschnitt 4 das Erziehungsziel beschrieben<br />

wird („<strong>Heimerziehung</strong> als Kollektiverziehung“),<br />

sollen nun die Mittel beschrieben<br />

werden: Wie die erzieherische Wirkung „<strong>in</strong><br />

H<strong>in</strong>blick auf die Persönlichkeitsentwicklung<br />

<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em hohen Grad von<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit erreicht“ werden kann. 85<br />

Die „Wirkung“ ist „zielstrebig“, „absichtsvoll“,<br />

„geplant“ umzusetzen. Die „pädagogische<br />

Führung (ist) das entscheidende Moment<br />

im Erziehungsgeschehen“. 86 Es handelt sich<br />

immer um „beabsichtigte Wirkungen auf die<br />

Persönlichkeits- und Kollektiventwicklung“. 87<br />

Die Erziehungsprozessgestaltung entspricht<br />

e<strong>in</strong>er „vorgefassten Erziehungsabsicht“ und<br />

lässt sich <strong>in</strong> „Teilschritte“ glie<strong>der</strong>n. Erziehung<br />

ist deshalb die „Gestaltung von Erziehungsvorgängen“.<br />

Die Erzieher „for<strong>der</strong>n, bewerten,<br />

erklären, diskutieren mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n“. Sie<br />

„regen damit <strong>der</strong>en Aktivität an und lenken<br />

sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bestimmte Richtung“. Der Erzieher<br />

setzt „Aktivitätsimpulse“ <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf<br />

die Erfor<strong>der</strong>nisse des Kollektivs. Es müssen<br />

durch „Stimulierung ausgelöste Aktivitäten“<br />

den Erfor<strong>der</strong>nissen des Kollektivs<br />

entsprechen.<br />

1.2.6.4.3 Das K<strong>in</strong>d als Gegenstand<br />

Der entscheidende „pädagogische Vorgang“<br />

kennt das K<strong>in</strong>d nicht als Subjekt, son<strong>der</strong>n<br />

als e<strong>in</strong> Wesen, das durch Anlässe aktiv ist.<br />

„Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> werden veranlasst, etwas zu<br />

tun o<strong>der</strong> zu unterlassen, Entscheidungen<br />

zu treffen, Wertungen vorzunehmen, über<br />

etwas nachzudenken, sich e<strong>in</strong>en Standpunkt<br />

zu bilden usw. (...) Die Tätigkeit <strong>der</strong> Erzieher<br />

verzahnt sich mit <strong>der</strong> Tätigkeit <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Das, was <strong>der</strong> Erzieher beabsichtigt, geht <strong>in</strong><br />

die Aktivität <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> e<strong>in</strong>, tritt als Moment<br />

85 Autorenkollektiv, 1984, S. 114.<br />

86 Autorenkollektiv, 1984, S. 114.<br />

87 Autorenkollektiv, 1984, S. 117.<br />

<strong>der</strong>selben <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung.“ 88 Die oberflächliche<br />

Lektüre pädagogischer Texte <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

stößt beständig auf die positive Bewertung<br />

<strong>der</strong> aktiven, schöpferischen, <strong>in</strong>dividuellen<br />

und spontanen Momente des K<strong>in</strong>des. 89 Das<br />

ist jedoch Rhetorik. Tatsächlich ist damit<br />

immer e<strong>in</strong> „schöpferisches“ Aneignen o<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>e „aktive“ Reaktion auf die Vorgaben des<br />

Erziehers geme<strong>in</strong>t, denn auch h<strong>in</strong>ter dem<br />

Spontanen stehen „letztlich Klassenbewegungen“,<br />

sodass „es also Klassencharakter<br />

besitzt“. 90<br />

1.2.6.4.4 Die Methode als Übersetzung des<br />

Erziehungsziels <strong>in</strong> Handlungen<br />

Die Autoren des Werkes wissen, was erreicht<br />

werden soll. „Selbstverständlich ist vom<br />

Erziehungsziel auszugehen, von den Eigenschaften<br />

<strong>der</strong> sozialistischen Persönlichkeit,<br />

die wir ausprägen wollen.“ 91 Das Ziel benötigt<br />

e<strong>in</strong>e „Methode“, die praktische Möglichkeiten<br />

entwirft, die auf das Bewusstse<strong>in</strong> so e<strong>in</strong>wirken,<br />

dass es diesem Ziel entspricht. „Die<br />

Vorstellung davon, was erreicht werden soll,<br />

muss demzufolge transponiert werden <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Überlegung, was die K<strong>in</strong><strong>der</strong> tun sollen,<br />

damit sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> durch Stimulierung angeregten<br />

Aktivität die gewünschten Eigenschaften<br />

und Verhaltensweisen ausprägen.“ 92 Die<br />

Methode besteht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er durch Stimulation<br />

hervorgerufenen Reaktion, die die gewünschten<br />

Eigenschaften ausbildet. Das bedeutet<br />

genauer, dass die gewünschten Persönlichkeitseigenschaften<br />

transponiert, „‚übersetzt‘“<br />

werden müssen <strong>in</strong> Verhaltensweisen<br />

als Kollektivmitglie<strong>der</strong>. 93 Es geht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

ersten Schritt darum, dass getan wird, was<br />

<strong>der</strong> Erzieher will. Der Erzieher muss dafür<br />

sorgen, dass die K<strong>in</strong><strong>der</strong> äußerlich „tun“, was<br />

<strong>in</strong> ihnen auf Eigenschaften schließen lässt,<br />

88 Autorenkollektiv, 1984, S. 118.<br />

89 „Unsere Methode <strong>der</strong> Überzeugungsbildung ist<br />

jedoch nicht auf e<strong>in</strong>e passive, son<strong>der</strong>n auf e<strong>in</strong>e aktive<br />

Aneignung weltanschaulicher Kenntnisse gerichtet“<br />

(Korotow, 1974, S. 2).<br />

90 Klaus/Buhr, 1976, S. 1160.<br />

91 Autorenkollektiv, 1984, S. 123 f.<br />

92 Autorenkollektiv, 1984, S. 123.<br />

93 Autorenkollektiv, 1984, S. 124.<br />

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