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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

Grundrechte als „subjektive Rechte“ bezeichnet<br />

werden, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> westdeutschen<br />

Verfassungsdogmatik als klares Bekenntnis<br />

zu e<strong>in</strong>em abwehrrechtlichen Anspruch gelesen<br />

werden müsste, ist genau dies <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>DDR</strong>-Literatur nicht geme<strong>in</strong>t. 37 Dementsprechend<br />

werden die Grundrechte nach herrschen<strong>der</strong><br />

Auffassung nicht durch juristische<br />

E<strong>in</strong>schränkungen <strong>der</strong> Staatsmacht, son<strong>der</strong>n<br />

vor allem durch die allgeme<strong>in</strong>en politischen,<br />

ideologischen und ökonomischen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> gesichert. 38 Als juristische<br />

Garantien nennt Poppe für die Verfassung<br />

von 1968 nur zwei: die sozialistische Gesetzlichkeit<br />

und Rechtssicherheit aus Art. 19<br />

Abs. 1 und das allgeme<strong>in</strong>e Recht auf Rechtsschutz<br />

aus Art. 30 Abs. 3. 39 Zu wirksamen<br />

gibt es ke<strong>in</strong>e Freiheit des Bürgers vom Staat, das wäre<br />

Willkür und Anarchie. Freiheit des e<strong>in</strong>zelnen wird<br />

vielmehr durch die staatlich organisierten Volksmassen<br />

(durch die Mitwirkung des e<strong>in</strong>zelnen also) durch<br />

den Staat verwirklicht. Der sozialistische Staat ist Organisator<br />

und Garant dafür, daß je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne se<strong>in</strong>e<br />

Fähigkeiten und Fertigkeiten frei entwickelt.“ [Hervorhebungen<br />

v. Verf.]; ebd., 89: „[...] das sozialistische<br />

Recht gewährt ke<strong>in</strong>e Freistätte für die Abson<strong>der</strong>ung<br />

e<strong>in</strong>zelner vom Wege <strong>der</strong> Geschichte.“;<br />

Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft 1977,<br />

185: „Der sozialistische Staat ist das Macht<strong>in</strong>strument<br />

<strong>der</strong> Werktätigen selbst. Sie brauchen nicht vor <strong>der</strong><br />

Macht abgeschirmt und geschützt zu werden, die sie<br />

selbst revolutionär geschaffen haben und ausüben.“<br />

37 Vgl. Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft<br />

1977, 185: „Die Grundrechte s<strong>in</strong>d zugleich als<br />

subjektive Rechte des Bürgers zu verstehen. Dies gilt<br />

nicht im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> bürgerlichen Konzeption, wonach<br />

durch die Bürgerrechte angeblich e<strong>in</strong>e sogenannte<br />

staatsfreie Sphäre gesichert werden soll.“ Ob die<br />

Grundrechte überhaupt als subjektive Rechte bezeichnet<br />

werden sollten, war <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Staatslehre <strong>in</strong> den<br />

1950er- und 1960er-Jahren streitig. E<strong>in</strong>ige Autoren<br />

lehnten die Lehre vom subjektiven Recht als „Ausdruck<br />

e<strong>in</strong>es durch das Privateigentum <strong>in</strong>dividualisierten<br />

Machtbegriffs und Interesses“ (Haney 1967, 272)<br />

ganz ab, vgl. Mampel 1982, Art. 19 <strong>DDR</strong>-Verf. Rn. 21<br />

ff. m. N.<br />

38 Poppe 1969, 15. Für die Verfassung von 1949<br />

nennt Krüger (1957, 187) die Pflichten <strong>der</strong> Abgeordneten<br />

gegenüber den Wählern, die Gerichte und die<br />

allgeme<strong>in</strong>e Aufsicht des Staatsanwalts als zentrale<br />

Instrumente <strong>der</strong> Grundrechtssicherung.<br />

39 Poppe 1969, 15 f. Siehe dazu auch unten Kap.<br />

2.7.2.<br />

Instrumenten <strong>der</strong> Individuen für e<strong>in</strong>e<br />

Verteidigung ihrer Rechte gegenüber dem<br />

Staat konnte sich ke<strong>in</strong>e dieser Vorschriften<br />

entwickeln, weil sie im e<strong>in</strong>fachen Recht nicht<br />

durch Verfahrensrechte abgesichert wurden.<br />

2.7.1.1 Achtung <strong>der</strong> Persönlichkeit und<br />

Freiheit<br />

In <strong>der</strong> Verfassung von 1949 wird die persönliche<br />

Freiheit geschützt (Art. 8), <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verfassung<br />

von 1968/1974 die Persönlichkeit und<br />

die Freiheit (Art. 30 Abs. 1). Die Persönlichkeit<br />

wird für unantastbar erklärt (Art. 30<br />

Abs. 3). Darüber h<strong>in</strong>aus verpflichtet Art. 19<br />

Abs. 2 <strong>der</strong> Verfassung von 1968/1974 die<br />

Staatsorgane – aber auch die Bürger untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

– zur Achtung <strong>der</strong> Würde des<br />

E<strong>in</strong>zelnen.<br />

In <strong>der</strong> staatsrechtlichen Literatur <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

wird schon vor <strong>der</strong> Verfassungsreform 1964<br />

die Entwicklung <strong>der</strong> Persönlichkeit als <strong>der</strong><br />

zentrale Schutzgegenstand <strong>der</strong> Grundrechte<br />

und ihr geme<strong>in</strong>samer Wesensgehalt herausgestrichen.<br />

40 Allerd<strong>in</strong>gs muss auch hier <strong>der</strong><br />

Wortgebrauch sorgfältig analysiert werden:<br />

Im „Lehrbuch des Staatsrechts“ von 1977<br />

wird als wesentlicher Gewährleistungsgehalt<br />

des Grundrechts <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> Bürger<br />

vor Übergriffen durch an<strong>der</strong>e Bürger genannt.<br />

Dass <strong>der</strong> Staat selbst Ursache von E<strong>in</strong>griffen<br />

se<strong>in</strong> könnte, wird nicht reflektiert. Betont<br />

wird stattdessen die Pflicht <strong>der</strong> Bürger, untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

die Persönlichkeit und Freiheit <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en zu respektieren und allgeme<strong>in</strong> die<br />

rechtliche Ordnung zu wahren. 41 Auf diese<br />

40 Klenner 1964, 104 f.<br />

41 Vgl. Klenner 1964, 121 zur Verf. 1949: „Die<br />

durch die Verfassung garantierte Unverletzlichkeit<br />

<strong>der</strong> Person soll nicht etwa den e<strong>in</strong>zelnen vor dem<br />

Staat schützen […]. Sie soll vielmehr den e<strong>in</strong>zelnen<br />

wie die Geme<strong>in</strong>schaft, den Bürger wie den Staat vor<br />

Willkür, Bürokratismus und Amtsmißbrauch, vor<br />

ihrem Klassenwesen nach bürgerlichen Ersche<strong>in</strong>ungsformen<br />

schützen.“ [Hervorhebungen im Orig<strong>in</strong>al, FW].<br />

Zur Verf. 1968/1974 siehe Akademie für Staats- und<br />

Rechtswissenschaft 1977, 206: „Es ist damit [mit Art.<br />

30 <strong>DDR</strong>-Verf., FW] für jeden auch die Verpflichtung<br />

ausgesprochen, die Persönlichkeit und Freiheit <strong>der</strong><br />

Mitbürger zu achten, d. h. die für die Geme<strong>in</strong>schaft,<br />

Weise wurde e<strong>in</strong> Grundrecht des Individuums<br />

auf Achtung se<strong>in</strong>er Persönlichkeit und<br />

Freiheit zur Grundpflicht, se<strong>in</strong>erseits die Persönlichkeit<br />

und Freiheit an<strong>der</strong>er Bürger zu<br />

achten. Und da <strong>der</strong> Rechtsordnung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

von ihren Schöpfern unterstellt wurde, die<br />

Persönlichkeit und Freiheit <strong>der</strong> Bürger am<br />

besten zu schützen, wurde aus dieser Pflicht<br />

gegenüber den Mitbürgern schlussendlich<br />

e<strong>in</strong>e Pflicht zur Rechtstreue gegenüber dem<br />

Staat. 42<br />

2.7.1.2 Das Erziehungsrecht <strong>der</strong> Eltern<br />

Für das Erziehungsrecht <strong>in</strong> Art. 38 Abs. 4<br />

<strong>DDR</strong>-V 1968/1974 (vorher Art. 31 <strong>DDR</strong>-<br />

Verf. 1949) lehnte die familienrechtliche<br />

Literatur <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> folgerichtig e<strong>in</strong>e Konstruktion<br />

als Abwehrrecht gegen den Staat<br />

und als Freiheitsrecht zugunsten <strong>der</strong> Eltern<br />

ausdrücklich ab. Im Gegenteil wurde dieses<br />

westdeutsche Verständnis des Elternrechts<br />

als Strategie gebrandmarkt, unter dem<br />

Deckmantel <strong>der</strong> Sicherung <strong>der</strong> Privatsphäre<br />

die „Klassenfunktion“ 43 <strong>der</strong> Familie aufrechtzuerhalten.<br />

Die Familie <strong>in</strong> Westdeutschland<br />

diene <strong>der</strong> „Aufrechterhaltung und Festigung<br />

des Ausbeuterstaats“, so e<strong>in</strong> Lehrbuch des<br />

Familienrechts aus dem Jahr 1981. 44 Wenn<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> rechtswissenschaftlichen Literatur<br />

überhaupt auf den Rechtscharakter des Erziehungsrechts<br />

und nicht nur auf die damit<br />

verbundene gesellschaftliche Pflicht verwiesen<br />

wurde, so wurde das Erziehungsrecht als<br />

Mitwirkungsrecht <strong>der</strong> Eltern bezeichnet. 45<br />

den Schutz und die För<strong>der</strong>ung aller ihrer Mitglie<strong>der</strong><br />

geltende rechtliche Ordnung des Zusammenlebens zu<br />

wahren.“ Siehe auch Poppe 1969, 16.<br />

42 Siehe dazu die zeitgenössische Kritik bei<br />

Havemann 1977 [1975], 49: „Denn nach <strong>der</strong> im Staats-<br />

Marxismus vollzogenen Metamorphose präsentiert<br />

sich <strong>der</strong> Hegelsche Satz [‚Freiheit ist E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die<br />

Notwendigkeit“, FW] etwa <strong>in</strong> folgen<strong>der</strong> Form: Freiheit<br />

(des Staates) erfor<strong>der</strong>t E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Notwendigkeit<br />

<strong>der</strong> Unfreiheit (des Individuums).‘<br />

43 Grandke/Autorenkollektiv 1981, 14.<br />

44 Grandke/Autorenkollektiv 1981, 14.<br />

45 Grandke/Autorenkollektiv 1981, 144 („[...]<br />

das heißt e<strong>in</strong> Recht zur aktiven Mitgestaltung e<strong>in</strong>es<br />

bedeutenden gesellschaftlichen Prozesses.“). Im<br />

Im Ergebnis bedeutete dies, dass Eltern <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Ausgestaltung ihres Familienlebens<br />

und <strong>der</strong> Erziehung ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong> unter <strong>der</strong><br />

erzieherischen Aufsicht des Staates standen.<br />

Erziehungsrecht und die korrespondierende<br />

Erziehungspflicht waren folglich nicht darauf<br />

gerichtet, den Eltern e<strong>in</strong>en Freiraum für<br />

ihre eigenen Erziehungsvorstellungen zu<br />

gewähren, son<strong>der</strong>n sollten e<strong>in</strong>e Erziehung<br />

<strong>der</strong> Erziehenden im S<strong>in</strong>ne des Sozialismus<br />

ermöglichen. 46<br />

2.7.2 Rechtsstaatliche<br />

Verfahrensgarantien<br />

An<strong>der</strong>s als die Verfassung von 1949 enthält<br />

Art. 19 <strong>der</strong> Verfassung von 1968/1974 <strong>in</strong><br />

Art. 19 e<strong>in</strong>ige rechtsstaatliche Garantien:<br />

Art. 19 Abs. 1 gewährleistet den Bürgern „die<br />

Ausübung ihrer Rechte und ihre Mitwirkung an<br />

<strong>der</strong> Leitung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Entwicklung“<br />

sowie die „sozialistische Gesetzlichkeit und<br />

Rechtssicherheit“. Art. 19 Abs. 2 enthält e<strong>in</strong>en<br />

Schutz <strong>der</strong> „Würde und Freiheit <strong>der</strong> Persönlichkeit“.<br />

Verfahrensrechtlich abgesichert waren<br />

diese Rechtsgarantien jedoch we<strong>der</strong> im<br />

Ver fassungsrecht noch auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachrechtlichen<br />

Ebene. Entgegen allen Bekenntnissen<br />

zur Mitwirkung <strong>der</strong> Bürger an staatlichen<br />

Entscheidungen war das Verwaltungsverfahrensrecht<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> obrigkeitsstaatlich<br />

ausgestaltet und erlaubte den weitgehenden<br />

Verzicht auf die Beteiligung <strong>der</strong> Betroffenen.<br />

Diese mangelnde Berücksichtigung<br />

<strong>der</strong> Bürger im Verwaltungsverfahren<br />

„Lehrbuch des Staatsrechts“ (Akademie für Staats- und<br />

Rechtswissenschaft 1977, 217 f.) wird lediglich <strong>der</strong><br />

Pflichtcharakter des Elternrechts erläutert.<br />

46 Grandke/Autorenkollektiv 1981, 14, 42; vgl.<br />

auch ebd. (35 f.) zum Ziel <strong>der</strong> Familienför<strong>der</strong>ung: „Die<br />

wichtigste Aufgabe <strong>der</strong> Familienför<strong>der</strong>ung ist also<br />

auf die Festigung sozialistischer Anschauungen und<br />

Erwartungen gegenüber Ehe und Familie und auf die<br />

Befähigung <strong>der</strong> Bürger zur Gestaltung dieses Lebensbereichs<br />

gerichtet.“ Siehe auch ebd. (155) zur Erziehungspflicht,<br />

die dar<strong>in</strong> bestehe, „sich <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />

zur konsequenten Verfolgung des sozialistischen<br />

Erziehungsziels bewußt zu werden.“ Zur erzieherischen<br />

Funktion des <strong>DDR</strong>-Familienrechts siehe auch<br />

Schnei<strong>der</strong> 2004, 176.<br />

18 19

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