Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
<strong>in</strong>ternationale Standard für die Rechtsstaatlichkeit<br />
e<strong>in</strong>er Rechtsordnung s<strong>in</strong>d. H<strong>in</strong>zu<br />
kommt, dass sie schon den Machthabern<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> als kritische Maßstäbe entgegengehalten<br />
wurden. Die <strong>Aufarbeitung</strong> des<br />
Unrechts schließt also an e<strong>in</strong>e Diskussion<br />
an, die von <strong>der</strong> Opposition <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> und<br />
den Menschenrechtsorganen <strong>der</strong> UNO schon<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit zwischen 1948 und 1989 geführt<br />
wurde.<br />
6.2.1.3.1 Persönliche Freiheit und<br />
körperliche Integrität<br />
Die <strong>in</strong>ternationalen Menschenrechtsdokumente<br />
schützen das Leben <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelnen<br />
als zentralen Wert (Art. 1 AEMR und Art.<br />
6 Abs. 1 IPbpR). Gleiches gilt für die Freiheit,<br />
die nur unter bestimmten Umständen<br />
beschränkt werden darf (Art. 1, 29 Abs. 2<br />
AEMR und Art. 9 Abs. 1 IPbpR). Die körperliche<br />
Unversehrtheit ist nicht explizit<br />
geschützt, ihr Wert kommt aber <strong>in</strong> den<br />
Folterverboten und <strong>in</strong> dem Recht auf „Sicherheit<br />
<strong>der</strong> Person“ (Art. 3 AEMR) <strong>in</strong>direkt zum<br />
Ausdruck. Prügelstrafen und jedenfalls jede<br />
Form des unverhältnismäßigen und <strong>in</strong> den<br />
Haftbed<strong>in</strong>gungen unzumutbaren Arrests<br />
verstoßen gegen diese Rechte. Auch harte<br />
körperliche Arbeit kann bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und<br />
Jugendlichen das Recht auf körperliche Unversehrtheit<br />
verletzen. Die Parallelen zu den<br />
Garantien aus Art. 2 Abs. 2 GG s<strong>in</strong>d offensichtlich.<br />
Hier wird es bei <strong>der</strong> Bewertung wie<br />
auch bei <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> (West) vor allem<br />
darauf ankommen, wie weit diese Rechte bei<br />
M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen aus erzieherischen Gründen<br />
e<strong>in</strong>geschränkt werden dürfen, ohne dass<br />
<strong>der</strong> Kern <strong>der</strong> menschenrechtlichen Garantie<br />
verloren geht.<br />
6.2.1.3.2 Rechtsstaatspr<strong>in</strong>zip<br />
Das Rechtsstaatspr<strong>in</strong>zip gewährt nach se<strong>in</strong>er<br />
Ausgestaltung im Grundgesetz e<strong>in</strong>en stärkeren<br />
Schutz, als er im <strong>in</strong>ternationalen Recht<br />
vorgesehen ist. Dies betrifft vor allem die<br />
Anhörungsrechte vor Gericht und im Verwaltungsverfahren<br />
und den verwaltungsgerichtlichen<br />
Rechtsschutz. Entsprechend geht auch<br />
das Rehabilitierungsrecht davon aus, dass<br />
nicht jede Verletzung rechtsstaatlicher Pr<strong>in</strong>zipien<br />
im S<strong>in</strong>ne des Grundgesetzes rehabilitierungsfähig<br />
ist, son<strong>der</strong>n nur solche, die sich<br />
als Verletzung wesentlicher rechtsstaatlicher<br />
Grundsätze darstellen. 479<br />
E<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Pr<strong>in</strong>zip, nach dem gegen<br />
Akte <strong>der</strong> öffentlichen Gewalt gerichtlicher<br />
Rechtsschutz zu gewährleisten ist, lässt sich<br />
dem <strong>in</strong>ternationalen Recht nicht entnehmen.<br />
Der allgeme<strong>in</strong>e Gedanke, dass gegen Rechtsverletzungen<br />
wirksame Rechtsbehelfe zur<br />
Verfügung stehen müssen, ist jedoch sowohl<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> AEMR (Art. 8, 10) als auch im IPbpR<br />
(Art. 2 Abs. 3) verankert.<br />
Nach <strong>der</strong> strafrechtlichen Rechtsprechung<br />
zu den Mauerschützenfällen gehört die Verhältnismäßigkeit<br />
von Mittel und Zweck zu<br />
den allgeme<strong>in</strong>en Grundsätzen e<strong>in</strong>er rechtsstaatlichen<br />
Ordnung, die dem <strong>DDR</strong>-Recht als<br />
Maßstab entgegengehalten werden können.<br />
In <strong>der</strong> Form des Willkürverbots ergibt sich<br />
dieses Pr<strong>in</strong>zip aus Art. 12 AEMR. Unverhältnismäßig<br />
können viele Sachverhalte aus<br />
<strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> se<strong>in</strong>, wobei hier<br />
jeweils im E<strong>in</strong>zelfall geprüft werden muss.<br />
Die Unverhältnismäßigkeit kann sich aus<br />
e<strong>in</strong>em Missverhältnis zwischen dem Anlass<br />
für die <strong>Heimerziehung</strong> und <strong>der</strong> Rechtsfolge<br />
ergeben, aber auch aus Geschehnissen im<br />
Heim, etwa bei harten Strafen aus ger<strong>in</strong>gem<br />
Anlass, schwerer körperlicher Arbeit für ger<strong>in</strong>gen<br />
Lohn, Verlegung vom Normal- <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />
Spezialheim o<strong>der</strong> vom Jugendwerkhof nach<br />
Torgau bei ger<strong>in</strong>gfügigen Verstößen gegen<br />
die Heimordnung etc.<br />
479 BT-Drs. 12/1608, 16.<br />
6.2.1.3.3 Menschenwürde<br />
Weitere Unterschiede ergeben sich h<strong>in</strong>sichtlich<br />
<strong>der</strong> Menschenwürde: Bei <strong>der</strong> Bewertung<br />
<strong>der</strong> West-<strong>Heimerziehung</strong> kommt <strong>der</strong> Menschenwürdegarantie<br />
aus Art. 1 Abs. 1 GG<br />
e<strong>in</strong>e erhebliche Bedeutung zu, weil ihre<br />
Geltung schon von 1949 an auch <strong>in</strong> den<br />
sogenannten „beson<strong>der</strong>en Gewaltverhältnissen“<br />
anerkannt war. E<strong>in</strong>e vergleichbare<br />
Rolle nimmt die Menschenwürde im <strong>DDR</strong>-<br />
Recht nicht e<strong>in</strong>. Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> AEMR und dem<br />
IPbpR f<strong>in</strong>den sich zwar Bekenntnisse zur<br />
Menschenwürde, sie ist jedoch ke<strong>in</strong> Schlüsselbegriff<br />
dieser Dokumente, wie es etwa im<br />
Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1) o<strong>der</strong> seit 2009 <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> EU-Grundrechtecharta <strong>der</strong> Fall ist.<br />
Für die Bewertung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
West ist das Menschenwürdepostulat vor<br />
allem <strong>in</strong> zweierlei H<strong>in</strong>sicht wichtig: Es verbietet<br />
jede Art <strong>der</strong> demütigenden Behandlung<br />
und jede Form <strong>der</strong> Instrumentalisierung des<br />
Individuums. Entwürdigende Strafpraktiken<br />
und auch die Ausnutzung von Gruppendynamiken<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> (Statuierung<br />
von „Exempeln“, Bestrafung e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zelperson<br />
vor <strong>der</strong> Gruppe, durch die Gruppe o<strong>der</strong><br />
die Gruppe für e<strong>in</strong> Vergehen e<strong>in</strong>es ihrer Mitglie<strong>der</strong>)<br />
verstoßen folglich gegen die Würde<br />
<strong>der</strong> betroffenen K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen.<br />
Diese Praktiken werden auf <strong>der</strong> Ebene des<br />
<strong>in</strong>ternationalen Rechts über das Verbot grausamer,<br />
unmenschlicher und erniedrigen<strong>der</strong><br />
Behandlung erfasst (Art. 5 AEMR, Art. 7<br />
IPbpR). Nach Art. 10 IPbpR muss je<strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />
von Freiheitsentzug betroffen ist, <strong>in</strong> Achtung<br />
vor se<strong>in</strong>er Würde behandelt werden. Körperliche<br />
Strafen und langdauern<strong>der</strong> Arrest,<br />
Arrest unter unwürdigen Bed<strong>in</strong>gungen<br />
(Dunkelheit, Essensentzug, fehlende Liegemöglichkeit<br />
o<strong>der</strong> Matratze), demütigende<br />
und erniedrigende Umgangsformen sowie<br />
körperlich erschöpfende Sanktionen wie<br />
exzessiver „Strafsport“ o<strong>der</strong> stundenlanges<br />
Stehen können auf dieser Grundlage als Unrecht<br />
bewertet werden.<br />
6.2.1.3.4 Bildungsrechte<br />
Nach <strong>der</strong> Ordnung des Grundgesetzes lässt<br />
sich e<strong>in</strong> Recht auf Bildung für K<strong>in</strong><strong>der</strong> aus<br />
dem Allgeme<strong>in</strong>en Persönlichkeitsrecht (Art.<br />
2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) ableiten.<br />
Für den Bereich <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> ist fraglich, ob e<strong>in</strong><br />
vergleichbares Recht auf Bildung als Maßstab<br />
für das Recht <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> herangezogen<br />
werden kann. Das Bildungsrecht gehört nicht<br />
zum Kern <strong>der</strong> Freiheitsrechte, die als „erste<br />
Generation“ <strong>der</strong> Menschenrechte bezeichnet<br />
werden, son<strong>der</strong>n zur „zweiten Generation“<br />
<strong>der</strong> sozialen Rechte. Im Kontext des <strong>DDR</strong>-<br />
Rechts sche<strong>in</strong>t das Recht auf Bildung jedoch<br />
<strong>in</strong>sofern beson<strong>der</strong>s relevant, als es <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> – an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> den westlichen Staaten<br />
– schon immer als Menschenrecht anerkannt<br />
war und auf se<strong>in</strong>e Umsetzung zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong><br />
den offiziellen Verlautbarungen großer Wert<br />
gelegt wurde. 480 Die <strong>DDR</strong> stellte sich gern als<br />
<strong>der</strong> Staat dar, <strong>der</strong> die Allgeme<strong>in</strong>e Menschenrechtserklärung<br />
mit vorangetrieben und die<br />
Menschenrechte besser verwirklicht habe als<br />
das imperialistische Ausland. Vor allem die<br />
sozialen Rechte – das Recht auf Arbeit, auf<br />
Bildung und auch das Recht <strong>der</strong> Jugend auf<br />
Schutz und För<strong>der</strong>ung – hielt die <strong>DDR</strong> dem<br />
„Klassenfe<strong>in</strong>d“ kämpferisch entgegen. Die<br />
Proklamation sozialer Grund- und Menschenrechte<br />
war für die <strong>DDR</strong> auch e<strong>in</strong> Weg,<br />
sich von dem Menschenrechtsverständnis<br />
des Westens abzugrenzen. 481 Vor diesem<br />
H<strong>in</strong>tergrund sche<strong>in</strong>t es berechtigt zu prüfen,<br />
ob die <strong>DDR</strong> diesen Anspruch <strong>in</strong>haltlich erfüllt<br />
hat, ob also die Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> tatsächlich<br />
die Möglichkeit hatten, sich zu allseitig<br />
gebildeten Individuen zu entwickeln, ob sie<br />
e<strong>in</strong>e umfassende Schulausbildung genossen,<br />
e<strong>in</strong>en zumutbaren materiellen Lebensstandard<br />
hatten und sich <strong>in</strong> s<strong>in</strong>nvoller Arbeit<br />
480 Vgl. Poppe 1969, 11 (Recht auf Bildung), 12<br />
(För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Jugend). Siehe für das Verfassungsrecht<br />
Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft<br />
1977, 213: „Das Grundrecht auf Bildung (Art. 25 u. 26)<br />
gehört zu den größten Errungenschaften des Sozialismus<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>.“<br />
481 Vgl. Klenner 1964, 116. Siehe dazu Neubert<br />
1999, 296 f.<br />
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