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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

Ausrichtung liegt auf <strong>der</strong> Hand: Das Recht<br />

dient <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie dazu, den Aufbau <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Gesellschaft zu gestalten, nicht<br />

aber, die Individuen vor ungerechtfertigten<br />

E<strong>in</strong>griffen des Staates <strong>in</strong> ihr Leben zu schützen.<br />

Im Gegenteil wurde die „bürgerliche“<br />

Vorstellung, die Bürger e<strong>in</strong>es Staates müssten<br />

eben gegen diesen Staat geschützt werden,<br />

etwa durch Grundrechte und die Anerkennung<br />

e<strong>in</strong>er Privatsphäre, <strong>in</strong> den Rechtswissenschaften<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> vehement abgelehnt.<br />

2.2 Interessenidentität <strong>der</strong> Regierenden<br />

mit den Regierten<br />

Alle Verfassungen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> enthielten <strong>in</strong>dividuelle<br />

Grundrechte <strong>der</strong> Bürger und Bekenntnisse<br />

zum Schutz <strong>der</strong> Freiheit und <strong>der</strong> Persönlichkeit.<br />

Dennoch wurden die Belange <strong>der</strong><br />

Individuen nicht nur im Ergebnis, son<strong>der</strong>n<br />

auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie den staatlichen Notwendigkeiten<br />

untergeordnet. Der Kunstgriff, mit<br />

dem dies gerechtfertigt wurde, liegt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Behauptung,<br />

im sozialistischen Staat seien die<br />

Interessen <strong>der</strong> Regierenden und <strong>der</strong> Regierten<br />

identisch. Begründet wurde dies damit, dass<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft die Ausbeutung<br />

<strong>der</strong> Lohnarbeiter durch das Kapital<br />

abgeschafft sei und die Werktätigen <strong>in</strong>sofern<br />

selbst herrschten. E<strong>in</strong>en Gegensatz zwischen<br />

Herrschenden und Beherrschten gebe es<br />

folglich nicht mehr. 3 Diese Gleichsetzung von<br />

staatlichen und <strong>in</strong>dividuellen Interessen war<br />

<strong>in</strong>tegraler Bestandteil <strong>der</strong> Staats- und Rechtstheorie<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>. Allenfalls wurden „partielle<br />

Wi<strong>der</strong>sprüche“ 4 anerkannt, die auf westliche<br />

E<strong>in</strong>flüsse, überkommenes Denken o<strong>der</strong> unreflektierte<br />

Praxis zurückgeführt wurden.<br />

In <strong>der</strong> Verfassung von 1968 wird die Interessenidentität<br />

<strong>in</strong> Art. 2 Abs. 4 ausgedrückt:<br />

„Die Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>der</strong> politischen, materiellen<br />

und kulturellen Interessen <strong>der</strong> Werktätigen<br />

und ihrer Kollektive mit den gesellschaftlichen<br />

Erfor<strong>der</strong>nissen ist die wichtigste<br />

Triebkraft <strong>der</strong> sozialistischen Gesellschaft.“<br />

3 Vgl. Autorenkollektiv 1980, 20.<br />

4 Haney 1967, 145.<br />

Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur zum Jugendhilferecht<br />

kommt dieser Gedanke während des gesamten<br />

Bestehens <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> deutlich zum Ausdruck.<br />

Im „Leitfaden Jugendhilfekommissionen“,<br />

den das M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung<br />

im Jahr 1968 herausbrachte, heißt es gleich<br />

zu Beg<strong>in</strong>n:<br />

„Die sozialistische Menschengeme<strong>in</strong>schaft<br />

ist durch die Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>der</strong> persönlichen<br />

und gesellschaftlichen Interessen<br />

gekennzeichnet. Diese Übere<strong>in</strong>stimmung<br />

bezieht sich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf die sozialistische<br />

Ideologie. Die Bürger unserer Republik<br />

identifizieren sich mit <strong>der</strong> Politik von Partei<br />

und Regierung, weil sie erkannt haben, daß<br />

nur im Sozialismus ihre persönlichen Interessen<br />

voll verwirklicht werden können.“ 5<br />

Dementsprechend war die Jugendhilfe <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>DDR</strong> „[…] darauf gerichtet, die Erziehungsverhältnisse<br />

<strong>in</strong> den Familien so zu gestalten,<br />

daß sie vom Pr<strong>in</strong>zipiellen her mit <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Ordnung übere<strong>in</strong>stimmen.“ 6<br />

2.3 Das Recht als Erziehungsmittel<br />

Wenn Regierende und Regierte ke<strong>in</strong>e grundsätzlichen<br />

Interessengegensätze mehr haben<br />

können, so muss es als e<strong>in</strong> fehlerhafter<br />

Zustand ersche<strong>in</strong>en, wenn sich solche Interessenkonflikte<br />

dennoch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

zeigen. Das Mittel <strong>der</strong> Wahl, mit solchen<br />

Konflikten umzugehen, war <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> das<br />

<strong>der</strong> Erziehung. Bei den Bürgern sollte mit<br />

Hilfe des Rechts das „richtige“ Bewusstse<strong>in</strong><br />

für die Notwendigkeiten im sozialistischen<br />

Staat geschaffen werden. Der Erkenntnisfortschritt<br />

sollte also von oben nach unten<br />

weitergegeben werden, was nur folgerichtig<br />

ist, wenn man Staat und Partei zuspricht,<br />

die objektiven historischen Notwendigkeiten<br />

mit letzter Sicherheit erkannt zu haben.<br />

„Erziehung“ darf hier nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em pädagogischen<br />

S<strong>in</strong>ne verstanden werden, auch<br />

wenn <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Rechtswissenschaft viel<br />

von <strong>der</strong> persönlichen Entfaltung <strong>der</strong> Staatsbürger<br />

die Rede ist. „Erziehung“ me<strong>in</strong>te im<br />

5 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1968, 10 f.<br />

6 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1968, 12.<br />

Wesentlichen gesellschaftliche Kontrolle,<br />

Belehrung und, wo dies nicht half, Diszipl<strong>in</strong>ierung,<br />

und sie traf nicht nur K<strong>in</strong><strong>der</strong> und<br />

Jugendliche, son<strong>der</strong>n alle Bürger des Staates. 7<br />

Auch das Recht <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> hatte e<strong>in</strong>e erzieherische<br />

Funktion <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne. E<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er<br />

wichtigsten Aufgaben wurde dar<strong>in</strong> gesehen,<br />

e<strong>in</strong>e „sozialistische Moral“ <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

zu etablieren. 8 Dieses Rechtsverständnis<br />

wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> westdeutschen Sekundärliteratur<br />

auch als „<strong>in</strong>strumentell“ bezeichnet 9 , was<br />

allerd<strong>in</strong>gs für sich genommen nicht viel<br />

aussagt, denn <strong>in</strong> jedem Staat ist Recht e<strong>in</strong><br />

Mittel zum Zweck und ke<strong>in</strong> Zweck an sich.<br />

Das Beson<strong>der</strong>e an <strong>der</strong> Rechtstheorie <strong>der</strong><br />

<strong>DDR</strong>-Rechtswissenschaften ist daher nicht,<br />

dass das Recht als Mittel zum Zweck angesehen<br />

wird, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>e Zweck, für<br />

den es genutzt wird, nämlich, <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

e<strong>in</strong>e bestimmte Moral durch das Recht<br />

7 Siehe dazu Haney 1967, 231 ff.; Ulbricht<br />

1960 [1958], 150.<br />

8 Vgl. Art. 19 Abs. 3 Satz 3 Verf. v. 1968/1974:<br />

„Die Beziehungen <strong>der</strong> Bürger werden durch gegenseitige<br />

Achtung und Hilfe, durch die Grundsätze sozialistischer<br />

Moral geprägt.“ Siehe auch Schnei<strong>der</strong> 2004,<br />

267; Arnold 1975, 24. Dazu Benjam<strong>in</strong> 1958, 509: „Das<br />

Recht wird […] immer mehr zum Faktor <strong>der</strong> Bildung<br />

des sozialistischen Bewusstse<strong>in</strong>s und <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Erziehung.“;<br />

Haney 1967, 112: „Die hauptsächlichste Funktion<br />

des sozialistischen Rechts ist es, das Handeln <strong>der</strong><br />

Menschen so zu bee<strong>in</strong>flussen, daß die durch die objektiven<br />

Gesetzmäßigkeiten gestellten Aufgaben von den<br />

e<strong>in</strong>zelnen bewußt erfüllt werden.“;<br />

Institut für Theorie des Staates und des Rechts 1975,<br />

366: „Die vom Recht gefor<strong>der</strong>ten Verhaltensweisen,<br />

mit <strong>der</strong>en Hilfe gesellschaftliche Prozesse organisiert,<br />

geschützt, reguliert, fixiert und gesichert werden,<br />

müssen, ehe sie realisiert werden, durch die Köpfe des<br />

e<strong>in</strong>zelnen h<strong>in</strong>durchgehen. Aus diesen Gründen s<strong>in</strong>d<br />

die Funktionen des sozialistischen Rechts wesentlich<br />

erzieherisch-ideologische E<strong>in</strong>wirkung auf die Bürger<br />

des sozialistischen Staates.“ Siehe auch speziell für das<br />

Familienrecht Grandke/Autorenkollektiv 1981, 67.<br />

9 Bspw. bei Schnei<strong>der</strong> 2004, 176; Bundesm<strong>in</strong>isterium<br />

für <strong>in</strong>nerdeutsche Zusammenarbeit 1985,<br />

1107. Interessanterweise wirft auch umgekehrt das<br />

„Lehrbuch <strong>der</strong> marxistisch-len<strong>in</strong>istischen Staatstheorie<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>“ dem bürgerlichen „Ausbeuterrecht“ e<strong>in</strong>en<br />

„<strong>in</strong>strumentalen Charakter“ vor (Institut für Theorie<br />

des Rechts und des Staates 1975, 338).<br />

vorzugeben und sie durch rechtliche Maßnahmen<br />

dazu zu br<strong>in</strong>gen, diese Moralvorstellungen<br />

– durch äußere Anpassung o<strong>der</strong> <strong>in</strong>nere<br />

Überzeugung – <strong>in</strong> ihrem Alltag umzusetzen.<br />

Die Erziehungsfunktion des Rechts betraf<br />

auch die Familie: Ziel des sozialistischen<br />

Staats, so die herrschende Lesart, sei die<br />

allseitige Entfaltung <strong>der</strong> Persönlichkeit.<br />

Darum sei es auch das oberste Ziel <strong>der</strong> Familie,<br />

den E<strong>in</strong>zelnen bei diesem „Prozeß <strong>der</strong><br />

Persönlichkeitsentwicklung“ 10 zu helfen. E<strong>in</strong>e<br />

private Sphäre, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Bürger abweichende<br />

Lebenshaltungen entwickeln und<br />

pflegen konnten, war <strong>in</strong> diesem System nicht<br />

vorgesehen.<br />

2.4 „Sozialistische Gesetzlichkeit“:<br />

Gesetzesb<strong>in</strong>dung und<br />

Interpretationsspielräume<br />

Art. 19 Abs. 1 Satz 2 <strong>der</strong> Verfassung von<br />

1968/1974 gewährleistete den Bürgern <strong>der</strong><br />

<strong>DDR</strong> „sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtssicherheit“.<br />

Der Begriff <strong>der</strong> „sozialistischen<br />

Gesetzlichkeit“ wurde schon <strong>in</strong> den 1950er-<br />

Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Rechtswissenschaft<br />

diskutiert; im Kern g<strong>in</strong>g es dabei um die<br />

Reichweite <strong>der</strong> Gesetzesb<strong>in</strong>dung. Nach <strong>der</strong><br />

marxistisch-len<strong>in</strong>istischen Rechtslehre<br />

bedeutet dieses Pr<strong>in</strong>zip ähnlich wie <strong>in</strong> Westdeutschland<br />

die B<strong>in</strong>dung aller Staatsorgane<br />

an die bestehenden Gesetze. 11 Gleichzeitig<br />

aber enthält es e<strong>in</strong>e Verpflichtung zur<br />

„Parteilichkeit“ im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> marxistischlen<strong>in</strong>istischen<br />

Theorie. 12 Parteilichkeit wurde<br />

vor allem für die tradierten Rechtsvorschriften<br />

aus <strong>der</strong> Zeit vor <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

gefor<strong>der</strong>t. In den 1950er-Jahren wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

10 Grandke/Autorenkollektiv 1981, 19. Siehe<br />

auch ebd., 13: „Das Familienrecht hat wie jedes<br />

sozialistische Recht erzieherische, organisierende und<br />

schützende Funktion […].“ Siehe dazu auch Nowak<br />

1993, 33 ff.<br />

11 Vgl. Klenner 1964, 121.<br />

12 Vgl. Benjam<strong>in</strong> 1958, 509: „[...] die E<strong>in</strong>heit<br />

von strikter E<strong>in</strong>haltung des Gesetzes und <strong>der</strong> Parteilichkeit,<br />

die die beiden Seiten <strong>der</strong> sozialistischen<br />

Gesetzlichkeit ausmachen […].“ Siehe dazu und zu<br />

Differenzierungen <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Rechtswissenschaft<br />

auch Mampel 1982, Art. 19 <strong>DDR</strong>-Verf. Rn. 53 ff.<br />

12 13

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