Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heime Krassow und Blücherhof<br />
e<strong>in</strong>gewiesen wurde. Die durch die Heimbed<strong>in</strong>gungen<br />
sich verstärkenden Verhaltensauffälligkeiten<br />
s<strong>in</strong>d dort – nach Aussagen <strong>der</strong><br />
Mutter – mit Psychopharmaka „behandelt“<br />
worden. 556<br />
Aus dem Jugendwerkhof Hennickendorf<br />
notiert e<strong>in</strong> Berichterstatter, dass die Erziehungsarbeit<br />
nicht vorangeht, weil die Jugendlichen<br />
ruhiggestellt wurden.<br />
„Erschwert wird die Arbeit <strong>der</strong> Erzieher<br />
dadurch, dass fast 60 % <strong>der</strong> neu e<strong>in</strong>gewiesenen<br />
Jugendlichen medikamentös behandelt und<br />
damit ruhiggestellt werden.“ 557<br />
In e<strong>in</strong>er 1980 an den Rat des Bezirkes<br />
Schwer<strong>in</strong> gerichteten E<strong>in</strong>gabe werfen Eltern<br />
den Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen <strong>in</strong> Calbe und Eilenburg<br />
vor, dass ihr K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> beiden Heimen mit<br />
verschiedenen Medikamenten ruhiggestellt<br />
worden sei. 558<br />
Das Ausmaß dieses H<strong>in</strong>weises auf das<br />
Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim Eilenburg wird deutlich,<br />
wenn später (1986) <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Abteilung<br />
Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong> angibt, dass<br />
„<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er 5. Klasse des Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimes<br />
Eilenburg (...) 50 % <strong>der</strong> Schüler mit Psychopharmaka<br />
behandelt werden“ müssen. 559<br />
Im Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim „Fritz Pawlowski“<br />
leben K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> dritten bis zur<br />
achten Klasse. Sie weisen laut e<strong>in</strong>es für<br />
das M<strong>in</strong>isterium für Staatssicherheit<br />
angefertigten Berichtes „ausgeprägte<br />
556 Schriftwechsel von Frau H. von 1972 bis<br />
1974 mit dem M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung wegen<br />
<strong>der</strong> Heimunterbr<strong>in</strong>gung ihres Sohnes (Blücherhof,<br />
Krassow). In: BArch DR 2/51061.<br />
557 E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong> Bildungs- und Erziehungssituation<br />
im Jugendwerkhof Hennickendorf vom<br />
Oktober 1981. In: BArch DR 2/12329.<br />
558 E<strong>in</strong>gabe vom 2. September 1980 von B. J.<br />
für den Sohn U. J. an den Rat des Bezirkes Schwer<strong>in</strong><br />
wegen E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim statt<br />
Rehabilitation. In: BArch DR 2/51061.<br />
559 Leiter <strong>der</strong> Abteilung Jugendhilfe und<br />
<strong>Heimerziehung</strong>: Analyse und Standpunkte zur<br />
weiteren Entwicklung <strong>der</strong> politisch-pädagogischen<br />
Arbeit <strong>in</strong> den Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen (ohne Datum,<br />
1986). In: BArch DR 2/12190.<br />
Erziehungsschwierigkeiten (und) teilweise<br />
aggressives Verhalten (...) „und noch bildungsfähigen<br />
Schwachs<strong>in</strong>n“ auf. „E<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong><br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> wird mit Medikamenten behandelt,<br />
damit sie zum<strong>in</strong>dest teilweise <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage<br />
s<strong>in</strong>d, ihre Verhaltensweise zu steuern.“ 560<br />
Derzeit lassen sich noch ke<strong>in</strong>e darüber<br />
h<strong>in</strong>ausgehenden Aussagen über den Umfang<br />
und die Dosierung <strong>der</strong> Arzneimittelvergabe<br />
an Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> treffen, zumal die mediz<strong>in</strong>ische<br />
Versorgung <strong>der</strong> Jugendhilfe-Heime, die<br />
Verordnung und Vergabe von Medikamenten<br />
zu therapeutischen Zwecken, generell die<br />
Schnittstelle Volksbildung – Gesundheitswesen<br />
auf dem Gebiet <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
bislang kaum Beachtung gefunden hat. E<strong>in</strong><br />
beson<strong>der</strong>s heikler Punkt ist dabei auch die<br />
Testung von Arzneimitteln an K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und<br />
Jugendlichen <strong>in</strong> Heimen. Darüber geben die<br />
Akten des M<strong>in</strong>isteriums für Volksbildung<br />
kaum h<strong>in</strong>reichenden Aufschluss, es f<strong>in</strong>den<br />
sich dennoch vere<strong>in</strong>zelt H<strong>in</strong>weise. 561 Es<br />
wäre umfassend zu erforschen, <strong>in</strong> welchem<br />
Umfang Arzneimittelversuche stattgefunden<br />
haben und nach welchen Kriterien diese<br />
zugelassen worden s<strong>in</strong>d (Akteure und Interessen,<br />
Phasen <strong>der</strong> Testung, Zulassungskriterien,<br />
Vermittlungswege).<br />
Es gilt für die weitere Erforschung<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-<strong>Heimerziehung</strong>, angrenzende<br />
560 Informationen zu Mißständen im<br />
Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim „Fritz Pawlowski“ <strong>in</strong> Mittweida<br />
vom 30.06.1976. In: BStU MfS BV Karl-Marx-Stadt<br />
AKG, Nr. 9582.<br />
561 Schriftverkehr Rat des Bezirkes Halle, MfV<br />
1970/71. In: BArch DR 2/12264 Bd. 1 v. 2. Hier g<strong>in</strong>g<br />
es um die Testung <strong>der</strong> erprobten Arznei Orotsäure<br />
(früher Vitam<strong>in</strong> B 13) auf die Gedächtnisleistung<br />
durch das Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und<br />
Neurologie Bernburg (Leitung: Pharmakologie und<br />
Toxikologie Mediz<strong>in</strong>ische Akademie Magdeburg) im<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim „Edgar Andree“ <strong>in</strong> Bernburg. Die Wirkung<br />
auf die Gedächtnisleistung bei entwicklungsgestörten<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>n sollte ermittelt werden. Untersuchungen<br />
sollten mit e<strong>in</strong>er Kontrollgruppe 20 normaler K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
aus dem K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim Edgar Andree durchgeführt<br />
werden. Phase I war abgeschlossen, kl<strong>in</strong>ische<br />
Testung sche<strong>in</strong>bar noch nicht erfolgt (Vorprüfung<br />
auf Verträglichkeit bei jedem Probanden).<br />
Bezirksschulrat hatte E<strong>in</strong>wände gegen die Testung.<br />
Der Kontrollversuch wurde am 08.04.1971 genehmigt.<br />
Bereiche – hier die Mediz<strong>in</strong>- und Psychiatriegeschichte<br />
– stärker mite<strong>in</strong>zubeziehen, um<br />
die bislang gefundenen Anhaltspunkte <strong>in</strong><br />
ihren geschichtlichen Kontext e<strong>in</strong>ordnen zu<br />
können.<br />
4.7.2.2 Schwangere M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige<br />
Nur vere<strong>in</strong>zelte Erkenntnisse liegen über den<br />
Umgang mit schwangeren M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen<br />
<strong>in</strong> Normalheimen, Jugendwohnheimen und<br />
Jugendwerkhöfen vor. Dies trifft auch über<br />
(erzwungene) Schwangerschaftsabbrüche<br />
von Heimbewohner<strong>in</strong>nen zu. Bekannt ist<br />
z. B., dass die E<strong>in</strong>weisung von schwangeren<br />
Jugendlichen <strong>in</strong> Jugendwerkhöfe Ende <strong>der</strong><br />
1950er-Jahre von e<strong>in</strong>igen Leitern abgelehnt<br />
wurde. Werdende Mütter, gegen die e<strong>in</strong><br />
JGG-Urteil vorlag, mussten dagegen aufgenommen<br />
werden. 562 Im Jahr 1981 wurde e<strong>in</strong>e<br />
schwangere M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige (15 Jahre) <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim e<strong>in</strong>gewiesen. Die Geburt fand<br />
während ihres Heimaufenthaltes statt. 563 Im<br />
Jahr 1985 wurde e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige – als<br />
ihre Schwangerschaft bekannt wurde – aus<br />
e<strong>in</strong>em Jugendwohnheim „mit e<strong>in</strong>er Tasche<br />
unter dem Arm des Heimes verwiesen“.<br />
E<strong>in</strong>e weitere schwangere M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige aus<br />
demselben Heim wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Arbeiterwohnheim<br />
untergebracht. Laut Bericht lag <strong>in</strong><br />
beiden Fällen die Initiative bei <strong>der</strong> Heimleiter<strong>in</strong>.<br />
564 Die rechtliche Situation, die diesen<br />
Vorgängen zugrunde lag, ist unklar.<br />
Ursula Burkowski berichtete, dass sie nach<br />
Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft aus<br />
dem Jugendwohnheim <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e spezielle E<strong>in</strong>richtung<br />
für werdende Mütter verlegt wurde.<br />
Die mediz<strong>in</strong>ische Betreuung entsprach den<br />
562 Bericht 1. Halbjahr 1959, S. 3, M<strong>in</strong>isterium<br />
für Volksbildung, Abteilung Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong>:<br />
Analysen. In: BArch DR 2/23483<br />
563 E<strong>in</strong>gaben zu E<strong>in</strong>weisungen <strong>in</strong> Heime,<br />
Jugendwerkhöfe (Entweichungen, Behandlung,<br />
Beschlüsse) aus dem Jahr 1981–1983. E<strong>in</strong>weisung<br />
e<strong>in</strong>er schwangeren 15-Jährigen am 10. Oktober 1981.<br />
In: BArch SAPMO DY 30/5899.<br />
564 Zusammenfassung <strong>in</strong>offizieller H<strong>in</strong>weise<br />
über das K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendwohnheim Schwer<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />
den Jahren 1985/1986 (ohne Datum). In: BStU MfS BV<br />
Swn/Tb/46 (Z).<br />
sonstigen Standards <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>. Nach <strong>der</strong><br />
Geburt wurde sie gezwungen, ihr K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />
Heim zu geben. 565<br />
In e<strong>in</strong>em Fall ist e<strong>in</strong>e sexuelle Beziehung<br />
zwischen zwei Insassen e<strong>in</strong>es Jugendwerkhofes,<br />
die zu e<strong>in</strong>er Schwangerschaft führte, mit<br />
drakonischen Mitteln unterbunden worden<br />
(Bestrafungen, Dunkelarrest, Isolation). Als<br />
die werdende Mutter flüchtete, wurde sie<br />
nach ihrer Rückführung zusammengeschlagen<br />
(vermutlich während e<strong>in</strong>es kollektiven<br />
Bestrafungsaktes). Erst e<strong>in</strong>e weitere Flucht<br />
mit e<strong>in</strong>er dramatischen Zuspitzung des<br />
Konfliktes (geme<strong>in</strong>same Drohung mit Suizid)<br />
fanden sich die Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe zu<br />
Zugeständnissen bereit. Der werdende Vater<br />
wurde <strong>in</strong> den Geschlossenen Jugendwerkhof<br />
Torgau e<strong>in</strong>gewiesen, aus dem er – als Zugeständnis<br />
– noch vor <strong>der</strong> Entb<strong>in</strong>dung entlassen<br />
werden sollte. Nach den Vorfällen sollte<br />
die Erziehungsarbeit im Jugendwerkhof<br />
verbessert werden. Welche Verbesserungen<br />
vorgesehen s<strong>in</strong>d, bleibt unerwähnt. 566<br />
E<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf den Umgang mit Schwangerschaften,<br />
die aus sexuellen Beziehungen<br />
des Personals mit weiblichen Insassen<br />
resultierten, liegt vor. Das Protokoll e<strong>in</strong>er<br />
Befragung des Leiters des Jugendwerkhofes<br />
Rö<strong>der</strong>n durch die Krim<strong>in</strong>alpolizei Großenha<strong>in</strong><br />
ist <strong>in</strong>s M<strong>in</strong>isterium für Staatssicherheit<br />
gelangt. Hier wird berichtet, dass die sexuellen<br />
Übergriffe seitens <strong>der</strong> Erzieher im Heim<br />
nicht alle<strong>in</strong> bekannt waren, son<strong>der</strong>n offenbar<br />
zu gruppendynamischen „Machtkämpfen“<br />
geführt hatten. Was darunter zu verstehen<br />
sei, geht aus dem Bericht nicht hervor.<br />
Angegeben wird aber, dass es 1987 zu drei<br />
Entb<strong>in</strong>dungen und zwei Schwangerschaftsabbrüchen<br />
kam. Die Vaterschaften konnten<br />
nicht nachgewiesen werden. 567<br />
565 Burkowski, 1992.<br />
566 Briefe von entwichenen Zögl<strong>in</strong>gen aus dem<br />
Jugendwerkhof Wittenberg, <strong>der</strong>en Beziehungen<br />
unterdrückt worden s<strong>in</strong>d, vom Oktober 1982. In:<br />
BArch DR 2/51152.<br />
567 BStU MfS BV Dresden KD Großenha<strong>in</strong>, Nr.<br />
10184.<br />
250 251