Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
Jugendwerkhöfen als billige Arbeitskräfte <strong>in</strong><br />
den Vor<strong>der</strong>grund. In <strong>der</strong> Verordnung hieß es:<br />
„Zwischen dem Leiter des Jugendwerkhofes,<br />
dem gesetzlichen Vertreter des Jugendlichen und<br />
dem Jugendlichen soll nach Möglichkeit e<strong>in</strong> ‚Vertrag<br />
über berufliche Qualifizierung‘ vere<strong>in</strong>bart<br />
werden.“ Im Entwurf zu dieser Verordnung wird<br />
die dah<strong>in</strong>terliegende Absicht wesentlich deutlicher.<br />
Hier hieß es lapidar: „(…) kann e<strong>in</strong> Antrag<br />
auf Berufsausbildung unterzeichnet werden“. 422<br />
Auffällig ist, dass viele <strong>der</strong> neuen Arbeitsstellen<br />
(und späteren Anlernberufe) von schwerer<br />
bis schwerster körperlicher Arbeit geprägt<br />
waren, wie folgende unvollständige Aufzählung<br />
zeigt: 423<br />
• Ziegelfabriken (Lehn<strong>in</strong>, Hennickendorf,<br />
Bröthen, Mildenberg),<br />
• Metall verarbeitende Industrie (Freital,<br />
Lehn<strong>in</strong>),<br />
• Landwirtschaft (Gorgast, Flemsdorf,<br />
Criewen, Struveshof, Zootzen Damm),<br />
• Betonwerke (Stolpe, Römhild),<br />
• Brikettfabriken, Braunkohle (Mücheln,<br />
Freienhufen, Großräschen, Laubusch),<br />
• Kalk- und Sandste<strong>in</strong> (Stolpe),<br />
• Gleisbau (Drehna),<br />
• Zementfabrik (Hennickendorf,<br />
Rü<strong>der</strong>sdorf),<br />
• Pappfabrik (Friedrichswert),<br />
• Industrienäherei (Crimmitschau),<br />
• Großbaustelle (Groß Leuthen).<br />
In e<strong>in</strong>em Bericht über die Jugendwerkhöfe<br />
Gorgast und Letsch<strong>in</strong> heißt es dazu:<br />
„Die JWH s<strong>in</strong>d entstanden, um <strong>in</strong> beiden<br />
Orten dem akuten Arbeitskräftemangel zu<br />
begegnen. Es wurden beiden Betrieben vom<br />
M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung zur damaligen Zeit<br />
Arbeitskräfte <strong>in</strong> Form von Jugendlichen zugesagt.<br />
Die Betriebe hatten lediglich die Aufgabe,<br />
die Unterkünfte zu schaffen.“<br />
422 Die Erziehung zur Arbeit <strong>in</strong> den Heimen (vom<br />
24. November 1956). In: BArch DR 2/5571, S. 144.<br />
423 Zusammenstellung aus Archiv Christian<br />
Sachse.<br />
Die Gebäude seien von den Betrieben dann erstellt<br />
und notdürftig e<strong>in</strong>gerichtet worden. Die<br />
f<strong>in</strong>anziellen Mittel seien für e<strong>in</strong>e ordentliche<br />
Ausstattung völlig unterdimensioniert gewesen.<br />
Von Erziehung war nicht die Rede. 424<br />
Die Baracke, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> Jugendwerkhof Gorgast<br />
untergebracht war, war ursprünglich als<br />
Provisorium e<strong>in</strong>gerichtet worden, um <strong>in</strong> Spitzenzeiten<br />
zeitweise zusätzliche Kräfte unterzubr<strong>in</strong>gen.<br />
425 Auch hier war nicht an Erziehung<br />
gedacht, denn dem Jugendwerkhof wurden nur<br />
drei Erzieherplanstellen zugebilligt, die zudem<br />
durch Personal ohne Qualifikation besetzt<br />
worden s<strong>in</strong>d. Der Heimleiter hatte ke<strong>in</strong>en pädagogischen<br />
Abschluss, studierte aber – vermutlich<br />
im Fernstudium – Unterstufenlehrer.<br />
Se<strong>in</strong>e Ehefrau und e<strong>in</strong>e weitere weibliche Kraft<br />
wurden als Erzieher<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>gesetzt, beide<br />
hatten ke<strong>in</strong>e Ausbildung. Für 36 Jugendliche<br />
stand e<strong>in</strong> Aufenthaltsraum zur Verfügung, <strong>in</strong><br />
dem auch <strong>der</strong> Unterricht durchgeführt wurde.<br />
Die Ausstattung bestand aus „kaputten Stühlen<br />
und beschädigten Schränken“. 426<br />
Diese Zustände zeigen, dass die Arbeitserziehung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe von Jugendwerkhöfen<br />
<strong>in</strong> die Nähe zur Zwangs- und Strafarbeit geriet.<br />
In an<strong>der</strong>en Jugendwerkhöfen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Industrieregion Cottbus angesiedelt waren<br />
(Freienhufen, Großräschen, Laubusch), lehnten<br />
sich sowohl die Jugendlichen als auch<br />
das Personal stark an Lebensgewohnheiten<br />
<strong>in</strong> den umgebenden Barackenlagern an, die<br />
durch Alkoholismus, Krim<strong>in</strong>alität und Gewalt<br />
geprägt waren, sodass sie geschlossen werden<br />
mussten. 427 In ländlichen Bereichen mit sehr<br />
kle<strong>in</strong>en Jugendwerkhöfen ergab sich mitunter<br />
e<strong>in</strong> regelrecht familiäres Verhältnis zwischen<br />
Erziehern und Insassen. An<strong>der</strong>e Jugendwerkhöfe<br />
verkamen regelrecht und das Personal<br />
424 Bericht über die Situation <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen<br />
(Gorgast und Letsch<strong>in</strong>) des Kreises Seelow und<br />
über bisher e<strong>in</strong>geleitete Maßnahmen vom 20. Juni<br />
1963. In: BLHA Rep. 601 RdB Ffo, Nr. 5987.<br />
425 Bericht vom 23. November 1963 über die im<br />
Jugendwerkhof Gorgast durchgeführte Inspektion. In:<br />
BLHA Rep. 601 RdB Ffo, Nr. 5987.<br />
426 Ebenda.<br />
427 Bericht vom 7. Januar 1963 über die Lage an<br />
den Jugendwerkhöfen des Bezirkes Cottbus. In: BLHA<br />
Rep. 801 RdB Ctb, Nr. 20888/1.<br />
g<strong>in</strong>g Nebenverdiensten nach. Zeitweise erhielten<br />
die Insassen mehr Lohn als das Personal,<br />
sodass e<strong>in</strong> System entwickelt wurde, die<br />
„Überschüsse“ abzuschöpfen.<br />
In wirtschaftlicher H<strong>in</strong>sicht wurde die<br />
Arbeitserziehung <strong>der</strong> Jugendwerkhöfe seit<br />
Ende <strong>der</strong> 1950er-Jahre <strong>in</strong> also zweierlei H<strong>in</strong>sicht<br />
zweckentfremdet: Zum e<strong>in</strong>en wurden<br />
Jugendwerkhöfe <strong>in</strong> Regionen mit fehlenden<br />
Arbeitskräften errichtet, um <strong>der</strong> Volkswirtschaft<br />
Arbeitskräfte zuzuführen. Diese<br />
Versuche g<strong>in</strong>gen so weit, Jugendliche nach<br />
ihrer Entlassung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Region anzusiedeln<br />
o<strong>der</strong> die Insassen bis zur Vollendung des 20.<br />
Lebensjahres festzuhalten. 428 Zum an<strong>der</strong>en<br />
sollten Jugendwerkhöfe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Industrie ihre<br />
Unterhaltsmittel überwiegend selbst erwirtschaften.<br />
In e<strong>in</strong>em Brief des Sektors Jugendhilfe<br />
von 1960 wurden E<strong>in</strong>sparungen bis zu<br />
75 Prozent angekündigt. 429 Beiden Versuchen<br />
war ke<strong>in</strong> h<strong>in</strong>reichen<strong>der</strong> Erfolg beschieden.<br />
In den 1970er-Jahren wurde – allerd<strong>in</strong>gs im<br />
Rahmen <strong>der</strong> sehr begrenzten Möglichkeiten<br />
<strong>der</strong> Ausbildung zum Teilfacharbeiter – versucht,<br />
den Insassen berufliche Perspektiven<br />
zu vermitteln. Die Arbeit führte nicht mehr<br />
<strong>in</strong> jedem Fall zur physischen Erschöpfung. Es<br />
gab auch monotone Fließbandarbeit, e<strong>in</strong>fache<br />
handwerkliche Tätigkeiten und Hilfsarbeiten<br />
<strong>in</strong> Industriebetrieben. So arbeiteten die Mädchen<br />
des Jugendwerkhofes Hennickendorf<br />
im Glühlampenwerk NARVA, e<strong>in</strong>ige Jungen<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Plastik verarbeitenden Betrieb,<br />
an<strong>der</strong>e jedoch auch weiter im Zementwerk<br />
Rü<strong>der</strong>sdorf. 430<br />
428 In <strong>der</strong> nicht erlassenen Jugendhilfeverordnung<br />
von 1959 hieß es dazu im § 50: „Der<br />
Durchführung <strong>der</strong> vom Referat Jugendhilfe für e<strong>in</strong>en<br />
M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen angeordneten <strong>Heimerziehung</strong> steht<br />
<strong>der</strong> E<strong>in</strong>tritt <strong>der</strong> Volljährigkeit nicht entgegen. Die<br />
<strong>Heimerziehung</strong> endet mit <strong>der</strong> Vollendung des 20.<br />
Lebensjahres.“ In: BArch DY 30/IV 2/9.05/126 und<br />
127. Vgl. auch: Vorlage über die Verbesserung <strong>der</strong><br />
Arbeit <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen (undatiert von Ende<br />
1959). In: BArch DR 2/5850.<br />
429 Mitteilung des Sektors Jugendhilfe vom<br />
19. März 1960 an Staatssekretär Lorenz die Schaffung<br />
von 2.300 zusätzlichen Jugendwerkhof-Plätzen im<br />
Raum Cottbus betreffend. In: BArch DR 2/5850.<br />
430 Bericht über die Kontrolle im Jugendwerkhof<br />
In den 1980er-Jahren g<strong>in</strong>gen die Jugendwerkhöfe<br />
zu e<strong>in</strong>er dreijährigen Ausbildung<br />
über, die jedoch weiter mit e<strong>in</strong>em Abschluss<br />
als Teilfacharbeiter endete. 431<br />
H<strong>in</strong>zuweisen ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />
auf die sogenannte Arbeitserziehung <strong>in</strong> den<br />
Durchgangsheimen, die sich schlicht auf die<br />
Erfüllung von Produktionsaufgaben reduzierte.<br />
Die Arbeiten dienten <strong>der</strong> Ref<strong>in</strong>anzierung<br />
<strong>der</strong> Heime. In <strong>der</strong> Arbeitsrichtl<strong>in</strong>ie vom<br />
1. Mai 1963 hieß es dazu:<br />
„Alle Jugendlichen ab 14 Jahre s<strong>in</strong>d vom<br />
zweiten Aufenthaltstag an <strong>in</strong> den Arbeitsprozess<br />
im Heim o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sozialistischen Betrieb<br />
e<strong>in</strong>zubeziehen. (…) die Jugendlichen können<br />
auch zu Lohnarbeiten für die Durchgangse<strong>in</strong>richtungen<br />
e<strong>in</strong>gesetzt werden, so z. B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Küche<br />
o<strong>der</strong> Wäscherei.“ 432<br />
Auch <strong>in</strong> den Normalk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen wurde<br />
seit etwa 1956 verstärkt Arbeitserziehung<br />
e<strong>in</strong>geführt. Auch hier mit dem Ziel – die<br />
Art <strong>der</strong> aufgeführten Arbeiten lässt ke<strong>in</strong>en<br />
an<strong>der</strong>en Schluss zu – technisches Personal<br />
e<strong>in</strong>zusparen. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> wurden teilweise<br />
zur Erhaltung von Gebäuden und Grundstücken<br />
e<strong>in</strong>gesetzt.<br />
„S<strong>in</strong>d größere Arbeiten zu verrichten, z. B.<br />
Wege auszubessern, Kies zu fahren, Kohle abzuladen<br />
und Bäume auszuschneiden, dann werden<br />
die Gruppen geschlossen e<strong>in</strong>gesetzt. (…) Hierbei<br />
werden die physischen Kräfte des K<strong>in</strong>des weitgehend<br />
berücksichtigt. K<strong>in</strong><strong>der</strong>, welche sich weigern,<br />
die ihnen aufgetragenen Arbeiten zu verrichten,<br />
bekommen Son<strong>der</strong>aufgaben, um sich an die<br />
Arbeit zu gewöhnen.“<br />
Zusätzlich zu diesen Aufgaben waren die<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> als Erntehelfer und bei E<strong>in</strong>sätzen des<br />
Hennickendorf vom 8. bis 19. Januar 1973. In: BLHA<br />
Rep. 601 RdBFfo, Nr. 686.<br />
431 Anordnung über die Berufsausbildung<br />
Jugendlicher <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen vom<br />
1. September 1980. In: GBl. I, Nr. 18/1980, S. 167.<br />
432 Anweisung zur Anwendung <strong>der</strong> Arbeitsrichtl<strong>in</strong>ie<br />
für Durchgangse<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
vom 1. Mai 1963 und 5. Entwurf <strong>der</strong> Richtl<strong>in</strong>ie. In:<br />
BArch DR 2/60998.<br />
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