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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

Vorwort<br />

Die vorliegende Expertise entstand im Auftrag<br />

des Bundesm<strong>in</strong>isteriums des Innern im<br />

Zeitraum von Oktober bis Dezember 2011.<br />

Sie glie<strong>der</strong>t sich <strong>in</strong> fünf Abschnitte.<br />

Im ersten Kapitel („Die <strong>in</strong>stitutionellen<br />

und ideologischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong><br />

<strong>Heimerziehung</strong> unter <strong>der</strong> SED-Diktatur“)<br />

werden die wesentlichen pädagogischen<br />

und politischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

erläutert, ohne die e<strong>in</strong> Gesamtverständnis<br />

<strong>der</strong> Erziehungsvorstellungen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-<br />

<strong>Heimerziehung</strong> nicht möglich ist.<br />

Im zweiten Kapitel („Die Strukturen <strong>der</strong><br />

Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong>“) werden die<br />

<strong>in</strong>stitutionellen Akteure analysiert und<br />

die politische Anb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Institution<br />

Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong> dargestellt.<br />

Das dritte Kapitel („Das Heimsystem<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Jugendhilfe“) widmet sich<br />

bestimmten Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong><br />

Heime<strong>in</strong>weisung, beschreibt die Heimtypen<br />

und bietet statistisches Material.<br />

Im vierten Kapitel („Erziehung <strong>in</strong> den<br />

Heimen <strong>der</strong> Jugendhilfe“) werden die<br />

Erziehungskonzepte <strong>in</strong> ihrem Bezug zum<br />

Erziehungsalltag <strong>in</strong> den Heimen dargestellt.<br />

Abschließend (Anhang: „Geschichte,<br />

Etappen und Perioden <strong>der</strong> Jugendhilfe/<br />

<strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>“) ist <strong>der</strong> Versuch<br />

unternommen worden, die wesentlichen<br />

Etappen und politischen Entscheidungen,<br />

die für die <strong>Heimerziehung</strong> wichtig s<strong>in</strong>d,<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geschichtlichen Zusammenhang<br />

darzustellen.<br />

Die Expertise beruft sich für die<br />

wesentlichen Teile ihrer Aussagen auf<br />

<strong>in</strong>terne Quellen <strong>der</strong> an <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />

beteiligten <strong>DDR</strong>-Institutionen. Diese<br />

Akten, die aus dem Bestand verschiedener<br />

Archive stammen, vermitteln alle<strong>in</strong> ke<strong>in</strong><br />

realistisches Bild <strong>der</strong> Lebenswirklichkeit <strong>in</strong><br />

den Heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>. Aber man gew<strong>in</strong>nt<br />

aus ihnen e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck davon, was<br />

letztlich zu Entscheidungen führte, wie diese<br />

Entscheidungen <strong>in</strong>tern begründet wurden<br />

und welche Bedeutung die politischen und<br />

ideologischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen für die<br />

Erziehungspraxis hatten.<br />

Wir beziehen uns dabei zumeist auf Datenmaterial,<br />

welches wir e<strong>in</strong>deutig zuordnen<br />

und überprüfen konnten. Anhaltspunkte<br />

o<strong>der</strong> Vermutungen auf <strong>der</strong> Grundlage von<br />

H<strong>in</strong>weisen <strong>in</strong> den analysierten Akten werden<br />

explizit aufgeführt und als Forschungsdesi<strong>der</strong>ate<br />

ausgewiesen. Dadurch wird sich dem<br />

Leser gelegentlich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>druck aufdrängen,<br />

dass erstens die Faktenbasis quantitativ<br />

ungenügend ist und dass zweitens nicht alle<br />

Themenbereiche von <strong>der</strong> Expertise quantitativ<br />

gleichmäßig behandelt worden s<strong>in</strong>d.<br />

Beides erschwert die Bewertungsmöglichkeiten,<br />

wird aber dem gegenwärtigen Forschungsstand<br />

gerecht.<br />

Bei <strong>der</strong> Auswertung <strong>der</strong> Archivalien wurde<br />

beachtet, dass Schriftstücke immer e<strong>in</strong>en<br />

beson<strong>der</strong>en Anlass voraussetzen und mit<br />

e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>en Intention verfasst worden<br />

s<strong>in</strong>d. Alltagsdarstellungen und Abbildungen<br />

<strong>der</strong> Normalität f<strong>in</strong>den sich seltener als<br />

Berichte über beson<strong>der</strong>e Vorkommnisse und<br />

spezifische Beson<strong>der</strong>heiten. Beides musste<br />

abgewogen werden. Im Zweifelsfall s<strong>in</strong>d<br />

aber diejenigen Bereiche überproportional<br />

thematisiert, die verantwortlich s<strong>in</strong>d für<br />

das massive Unrecht, das <strong>in</strong> vielen Heimen<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> auftrat, und für die daraus<br />

resultierenden Folgeschäden, unter denen<br />

viele <strong>der</strong> betroffenen ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

heute noch leiden. Dass dadurch <strong>der</strong>jenige<br />

Teil <strong>der</strong> Lebenswirklichkeit <strong>der</strong> Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />

<strong>der</strong> sich durch e<strong>in</strong>e unproblematische<br />

Alltäglichkeit auszeichnete nicht h<strong>in</strong>reichend<br />

zur Sprache gebracht wurde, ist uns bewusst.<br />

Wir danken an dieser Stelle unseren<br />

wissenschaftlichen Mitarbeiter<strong>in</strong>nen Anke<br />

Dreier und Laura Hottenrott. Beide haben<br />

die Wege dieser Arbeit mitgetragen, haben<br />

ihr umfangreiches Wissen <strong>in</strong> die Expertise<br />

e<strong>in</strong>fließen lassen, standen immer für e<strong>in</strong>e<br />

Diskussion <strong>der</strong> Details und des großen<br />

Ganzen zur Verfügung und trugen so e<strong>in</strong>en<br />

großen Anteil an <strong>der</strong> Abfassung <strong>der</strong> Expertise<br />

bei.<br />

1. Die <strong>in</strong>stitutionellen<br />

und ideologischen<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong><br />

<strong>Heimerziehung</strong> unter <strong>der</strong> SED-<br />

Diktatur<br />

In diesem ersten Abschnitt sollen <strong>der</strong> detaillierten<br />

Darlegung <strong>der</strong> Erziehungskontexte<br />

und Erziehungskonzepte <strong>in</strong> den K<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> e<strong>in</strong>ige grundsätzliche Überlegungen<br />

vorangestellt werden. Es geht dabei<br />

nicht um e<strong>in</strong>e abschließende Bewertung –<br />

e<strong>in</strong>e solche muss sich <strong>der</strong> Leser selbst durch<br />

die Lektüre im Ganzen bilden –, son<strong>der</strong>n um<br />

e<strong>in</strong>e Darstellung e<strong>in</strong>iger wesentlicher, für<br />

das Verständnis des Themas unentbehrlicher<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen.<br />

(Blickw<strong>in</strong>kel 1) Im ersten Abschnitt wird<br />

es um Erziehungs- o<strong>der</strong> Sozialisationse<strong>in</strong>richtungen<br />

gehen, <strong>der</strong>en Traditionen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bewusst o<strong>der</strong> unbewusst<br />

aufgegriffen und <strong>in</strong> ihrer strukturellen<br />

Ausprägung weitergeführt wurden. Solche<br />

E<strong>in</strong>richtungen haben häufig und offenbar<br />

mit e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Notwendigkeit Formen<br />

hervorgebracht, die Gewalt, Misshandlungen<br />

und Demütigungen begünstigen o<strong>der</strong> sogar<br />

beför<strong>der</strong>n. Für diese E<strong>in</strong>richtungen wird hier<br />

<strong>der</strong> Term<strong>in</strong>us „Anstalt“ verwendet. Er soll<br />

verdeutlichen, dass sich unabhängig von <strong>der</strong><br />

Zeit und den gesellschaftlichen Systemen<br />

ähnliche <strong>in</strong>stitutionelle Strukturen und<br />

Gewaltformen herausbilden können.<br />

(Blickw<strong>in</strong>kel 2) Als Zweites müssen<br />

e<strong>in</strong>ige politische Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong><br />

<strong>DDR</strong>-Pädagogik <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung gerufen<br />

werden, ohne die die <strong>Heimerziehung</strong> und<br />

die Lebenswelt <strong>in</strong> den K<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen<br />

unverständlich und unvorstellbar bleibt.<br />

(Blickw<strong>in</strong>kel 3) Und schließlich müssen die<br />

Betroffenen mit ihren <strong>in</strong>dividuellen Biografien,<br />

mit ihren Me<strong>in</strong>ungen, Wertungen und ihren<br />

Problemen angesprochen werden. Es soll<br />

beschrieben werden, wie beides (die politische<br />

Situation <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialistischen Diktatur und<br />

die <strong>in</strong>stitutionelle Logik <strong>der</strong> Anstalt) bei <strong>der</strong><br />

Erziehung <strong>der</strong> Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> zusammenspielte.<br />

Die drei vorgestellten Blickw<strong>in</strong>kel s<strong>in</strong>d als<br />

mögliche Betrachtungsstandpunkte entworfen<br />

worden. Sie bilden nicht die Struktur <strong>der</strong><br />

Expertise – das würde e<strong>in</strong>en Schematismus<br />

erfor<strong>der</strong>n, <strong>der</strong> den Phänomenen nur unzureichend<br />

gerecht werden würde. Die verschiedenen<br />

Blickw<strong>in</strong>kel verdeutlichen aber den<br />

H<strong>in</strong>tergrund, vor dem letztlich alle Befunde<br />

und Aussagen betrachtet werden können und<br />

<strong>in</strong> dieser Expertise betrachtet werden.<br />

1.1 Der Blickw<strong>in</strong>kel <strong>der</strong> Anstalt<br />

Die Thematisierung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> damaligen Fachliteratur<br />

folgte e<strong>in</strong>er Tendenz des <strong>DDR</strong>-Geschichtsbewusstse<strong>in</strong>s.<br />

Die Revolutionsrhetorik <strong>der</strong><br />

SED-Ideologie wollte den E<strong>in</strong>druck vermitteln,<br />

dass die neue sozialistische Gesellschaft<br />

mit allem brach, was ihr vorausg<strong>in</strong>g. Für die<br />

<strong>Heimerziehung</strong> hatte dies die Folge, dass <strong>in</strong><br />

die pädagogischen Theorien nur Bezüge auf<br />

Makarenko, die Sowjet-Pädagogik und die<br />

Klassiker des Marxismus-Len<strong>in</strong>ismus (Marx,<br />

Engels, Len<strong>in</strong> und anfangs Stal<strong>in</strong>) e<strong>in</strong>flossen.<br />

An<strong>der</strong>e Orientierungspunkte gab es kaum.<br />

Dies gilt auch für die <strong>in</strong>stitutionellen<br />

Probleme <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong>. Weil<br />

Institutionen jedoch häufig von e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren<br />

Beharrungsstärke geprägt s<strong>in</strong>d und bei<br />

verän<strong>der</strong>ten politischen Situationen gleich<br />

o<strong>der</strong> ähnlich bleiben, s<strong>in</strong>d Strukturen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Jugendhilfe durch die faktische<br />

Anknüpfung an Leitgedanken <strong>der</strong><br />

Anstaltserziehung vielfältig gleich geblieben.<br />

Dabei sorgte auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite e<strong>in</strong><br />

fehlendes Problembewusstse<strong>in</strong> dafür, dass<br />

<strong>der</strong> gewaltförmigen Tendenz <strong>der</strong> Anstalt<br />

nicht entgegengewirkt wurde. Auf <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Seite ist diese Struktur, soweit<br />

sie reflektiert wurde, häufig aus politischerzieherischen<br />

Gründen ausgenutzt und<br />

verstärkt worden. Man wird deshalb sagen<br />

müssen, dass gewaltförmige Strukturen<br />

für den Heimalltag <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> über e<strong>in</strong>en<br />

weitaus längeren Zeitraum als <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik – nämlich bis zum Untergang<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> – e<strong>in</strong>e prägende Rolle spielten.<br />

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