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dämmerte ängstlich, daß sie sich da nicht zurecht fand." 30 Ja, bezogen auf diesen Befund,<br />

spitzt Döblin das Dilemma, in dem sich die Geschworenen später bei ihren Beratungen<br />

befanden, auf die Frage zu, ob man einen Eierstock schuldig sprechen könne, „weil er so<br />

und nicht so gewachsen war" 31 . Freilich deckte sich dies auch mit den kühl wissenschaftlich<br />

konstatierten Ergebnissen der Gutachter, die bei Elli Klein eine „körperliche und geistige<br />

Entwicklungshemmung" annahmen, „die sich selbst bis auf die inneren Geschlechtsorgane<br />

erstrecke" 32 .<br />

Ellis Ehemann, der dies gar nicht überblicken kann, wird durch die eheliche Situation zu<br />

einer extremen Haltung verleitet: „Ohne daß er wußte, warum und wie, unter deutlichem<br />

inneren Widerstreben, verfiel er darauf, geschlechtlich wild mit ihr zu sein. Heftiges, Wildes,<br />

Besonderes, von ihr zu verlangen." 33<br />

Das Zusammenleben der Kleins verschärft sich ins Unerträgliche, als Elli zufällig die drei<br />

Jahre ältere Grete Nebbe kennenlernt, die ebenfalls eine wenig glückliche Ehe führt. 34<br />

Nach längerem Zögern „erfolgte auf beiden Seiten die Entladung", indem sich die beiden<br />

Frauen „krampfartig, stoßartig" die in der Ehe erlittenen Torturen gestehen. 35 Das Leiden<br />

in den zerrütteten Ehen wird durch die engen Kontakte der beiden Frauen in scheinbar<br />

idealer Art aufgehoben und mündet in einen psychischen Befreiungsakt. Die muntere<br />

Elli Klein war für ihre ältere Freundin „Trost" und „Ersatz für den schlechten Mann . . .<br />

Die Link war ihr Kind". Die jüngere dagegen „fand sich aufatmend in ihrer alten Rolle<br />

wieder, war der muntere kleine Frechdachs der früheren Zeit" 36 .<br />

Im Laufe der folgenden Monate entwickelte sich zwischen den Frauen ein homosexuelles<br />

Verhältnis, das von Grete Nebbe ausging. 37 Es ist sicher keine erstaunliche Tatsache, daß<br />

gerade dieser Umstand den Prozeß für die Presse sensationsträchtig erscheinen ließ.<br />

Neben den in solchen Fällen üblichen, reißerisch aufgemachten Prozeßberichten über die<br />

„Giftmischerinnen" erschienen in einigen Blättern auch Betrachtungen abgewogenerer<br />

und grundsätzlicher Art. Besondere Beachtung verdient dabei ein Artikel des Schriftstellers<br />

Joseph Roth, den übrigens Rudolf Leonhard ebenfalls dazu ausersehen hatte, einen<br />

Beitrag in der Reihe „Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart" zu<br />

schreiben. 38 Die in germanistischer Forschung bisher vertretene Auffassung, Roth habe<br />

im September 1922 seinen letzten Beitrag für den Berliner Börsen-Courier verfaßt, 39 ist<br />

trotz eines vorliegenden Abschiedsbriefes an den Redakteur Herbert Ihering vom 17. 9.<br />

1922 40 falsch, denn Roth schrieb seinen Beitrag über die beiden Hauptangeklagten im<br />

Giftmordprozeß noch im März 1923 für dieses Blatt. 41<br />

Mahnend wies Roth auf die Vielschichtigkeit der im Verlauf der ersten Prozeßtage ans<br />

Licht getretenen Probleme hin: „Wären Zuhörer und Miterleber dieses Prozesses reif<br />

genug, um das Spannende und Lüsterne der Vorgänge auszuschalten und aus den Begebnissen<br />

zu lernen, so müßten sie zu der Erkenntnis gelangen, daß in uns die Engel und Teufel<br />

mit gleichen Kräften ausgerüstet sind und gleiche Gewinnchancen haben; daß die unnatürliche<br />

Veranlagung, die von Anbeginn vorhanden war — vielleicht in jedem vorhanden ist -<br />

gezüchtet wurde durch die Befolgung der gesellschaftlichen Regel" 42 .<br />

Roth, der Döblins schriftstellerischem Schaffen sehr kritisch gegenüberstand, 43 kommt aber<br />

der Einschätzung der Prozeßhintergründe, wie sie in der Erzählung über die beiden Freundinnen<br />

niedergelegt sind, sehr nahe.<br />

Auch Döblin fragt im Epilog nach den „eigentlichen Motoren" für die Handlungsweise der<br />

Angeklagten, hält sich aber mit einem fertigen Urteil vorsichtig zurück: „Psychischer<br />

Zusammenhang oder gar Kausalität, wie soll man sich das denken.' Mit dem Kausalitäts-<br />

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