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Literaturgeschichte 750-1500

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GOTTFRIED VON STRASSBURG, TRISTAN<br />

Wolframs großer Gegner Gottfried von Straßburg greift Wolframs dunklen, schwer verständlichen Stil an, steht in<br />

den meisten <strong>Literaturgeschichte</strong>n. Das kann man etwas nuancieren: Gottfried beklagt sich<br />

daz wir die glose suochen<br />

dass wir die Glossen (Erklärungen)<br />

in den swarzen buochen<br />

in den alchimistischen (‚schwarzen‘) Büchern suchen sollen<br />

Das heißt eigentlich nicht, dass Gottfried Wolframs Deutsch nicht versteht, wie dieser ironisch Gottfrieds Kritik zu<br />

verstehen vorgibt (Willehalm 237,8ff.):<br />

ein ungefüeger Tschampâneys Ein ungebildeter (ungefüege ‚ohne Fug, ungehobelt‘ 97 ) Mensch aus der Champagne<br />

kunde vil baz franzeys<br />

könnte viel besser Französisch als ich, obwohl (swie ‚wie auch immer‘; swiech =<br />

dann ich, swiech franzoys spreche. swie ich) ich Französisch spreche.<br />

seht waz ich an den reche,<br />

den ich diz mære diuten sol:<br />

den zæme ein tiutschiu sprâche wol:<br />

mîn tiutsch ist etswâ doch sô krump,<br />

er mac mir lîht sîn ze tump,<br />

den ichs niht gâhs bescheide.<br />

Dâ sûme wir uns beide.<br />

Seht, wofür ich mich an denen räche, denen ich diese Geschichte interpretieren soll<br />

(diuten ‚deuten, interpretieren‘): die sollten eigentlich (zemen ‚(ge-)-ziemen‘)<br />

Deutsch verstehen. 98<br />

Mein Deutsch ist irgendwie doch so krumm (krump ‚krumm‘), dass mir der vielleicht<br />

zu dumm dazu ist, dem ich es nicht schnell erkläre (mac ‚kann‘; lîht(e)<br />

‚leicht, vielleicht‘; ‚kann vielleicht sein‘ = ‚ist vielleicht‘; gâch ‚jäh, schnell‘; bescheiden<br />

‚Bescheid geben, erklären‘). 99 Da versäumen wir beide Zeit.<br />

Gottfried beklagt sich anscheinend darüber, dass Wolfram nicht den Sinn seiner Geschichte erklärt, wie Gottfried<br />

selbst es in mehreren Exkursen tut, sondern dass Wolfram behauptet, seine Geschichte selbst nicht zu verstehen<br />

(Parzival 1,20ff.):<br />

Diz fliegende bîspel<br />

ist tumben liuten gar ze snel,<br />

sine mugens niht erdenken;<br />

wan ez kann vor in wenken<br />

rehte alsam ein schellec hase.<br />

Zin anderhalp am glase<br />

gelîchet, und des blinden troum:<br />

die gebent antlützes roum.<br />

Doch mac mit stæte niht gesîn<br />

dirre trüebe lîhte schîn:<br />

er machet kurze fröude alwâr.<br />

Dieses fliegende Gleichnis (er nennt zuvor<br />

die Seele mancher Menschen schwarz und<br />

weiß gefleckt, wie die Elster) ist dummen<br />

Leute gar zu schnell. Sie können es mit<br />

ihren Gedanken nicht einholen, denn es<br />

kann vor ihnen Haken schlagen, recht wie<br />

ein aufgescheuchter Hase. Ein Zinnspiegel<br />

gleicht (diesem bîspel); er und der Traum<br />

eines Blinden geben verschwommene<br />

Abbilder der Wirklichkeit. Doch hat dieser<br />

trübe helle Schein keine Beständigkeit. Er<br />

macht wirklich nur kurze Freude.<br />

bîspel ‚Gleichnis‘ (etym. Beispiel); si-ne<br />

‚sie‘ + Negation; mugens = mugen es (erdenken<br />

‚mit den Gedanken einholen‘+ Genitiv.<br />

Akk. wäre ez bzw. mugenz); in hier Dat.<br />

Plur. des Personalpron.: ‚ihnen‘; wenken ‚einen<br />

wanc (Schwenkung) machen‘; schellec<br />

zu schal ‚Lärm‘ -ec = nhd. -ig (ein *schällig<br />

‚schallempfindlich‘ gibt es nicht mehr);<br />

antlütze ‚Gestalt‘; roum: ‚Schimmer‘ (?), in<br />

Mundarten: ‚Rahm der Milch‘, ‚Tau‘ oder<br />

‚Schmutz‘; ‚kann nicht mit Beständigkeit<br />

sein‘; alwâr ‚all wahr‘ = ‚tatsächlich‘.<br />

Oft wird das nur paraphrasiert: ‚Spiegelbild und Traum sind unbeständig und nicht die Realität‘. Da fehlt aber<br />

etwas: Unsere Wahrnehmungen sind außerdem noch qualitativ sehr schlecht – besonders zwischen ‚Traumbild‘<br />

und ‚Traumbild eines Blinden‘ besteht wohl qualitativ ein wesentlicher Unterschied.<br />

Parzival 4,2ff. behauptet Wolfram auch noch,<br />

nû lât mîn eines wesen drî,<br />

Nun laßt mich allein drei sein,<br />

der ieslîcher sunder pflege<br />

von denen jeder allein eine Kunst ausübt,<br />

daz mîner künste widerwege:<br />

die mindestens so gut ist wie die meine (widerwegen ‚aufwiegen‘):<br />

dar zuo gehôrte wilder funt,<br />

das wäre ein seltener (wild ‚selten‘) Zufall (‚Fund‘),<br />

ob si iu gerne tæten kunt<br />

wenn die leicht in der Lage wären, euch kundzutun,<br />

daz ich iu eine künden wil.<br />

was ich allein euch berichten will.<br />

Si heten arbeite vil.<br />

Sie hätten viel Mühe damit.<br />

Dass ein Dichter glaubt, drei andere seien nicht so gut wie er allein, mag vorkommen. Wolfram behauptet aber,<br />

drei, von denen jeder mindestens so gut sei wie er selbst, könnten kaum die Geschichte erzählen. Das heißt, er<br />

selbst kann es nur sehr unvollkommen.<br />

Es fasziniert uns, dass ein Dichter von sich behauptet, weder die Welt zu verstehen noch sein eigenes Werk<br />

schreiben zu können. Viele glauben, solche Sichtweisen seien erst im 20. Jahrhundert aufgekommen, und sind überrascht,<br />

dass es diese Haltung schon im Mittelalter gab. Wolfram ist ohne Zweifel ein für uns in mancher (nicht<br />

97 die Bewohner der Champagne sind großteils Bauern und sprechen einen vom Pariser Französisch stark abweichenden Dialekt.<br />

98 ‚Denen stünde eine deutsche Sprache wohl an’: weil es ihre Muttersprache ist, sollten sie es so weit beherrschen, dass sie<br />

Wolframs Parzival ohne Kommentar verstehen können.<br />

99 Falls auch Ihnen, wie Gottfried von Straßburg oder mir, der gedruckte Text des Parzival stellenweise unverständlich erscheint,<br />

vor allem durch das Verschlucken unbetonter Vokale: versuchen Sie, ihn sich laut vorzulesen (und zwar geht es, wenn Sie<br />

noch nicht Mhd. können, zunächst zur Not mit der Aussprache eines heutigen bairischen Dialekts), dann werden Ihnen die<br />

Wörter klarer werden: etwa swiech mit dem Auge aufzulösen, ist schwer; Sie halten es vielleicht für ein Verb und suchen analog<br />

zu heizen - hiez ‚heißen’ ein sweichen - swiech im Wörterbuch. Wenn Sie sich die Zeile mit der Aussprache und Betonung eines<br />

krump sprechenden Bayern vorstellen, lösen Sie ohne Nachdenken richtig swie ich auf. Wenn Sie sich dazu noch die bildhafte<br />

Sprache, die Sie etwa in der Straßenbahn oder in einem Wirtshaus vernehmen, dazudenken, werden Ihnen auch Wolfram seine<br />

krumpe Syntax und sprachliche Bilder klarer als nur mit dem Wörterbuch in der Hand.

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