Literaturgeschichte 750-1500
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sie traurig, weil Eneas nicht gleich kam, ihr seine Aufwartung zu machen. In der Nacht quälte ihn aber die Minne, und er bereute,<br />
so eine lange Frist, zwei ganze Wochen, akzeptiert zu haben. Also entschloss er sich, gleich in der Früh dem König bekanntzugeben,<br />
dass er seine zukünftige Frau besuchen wolle. Prächtig gekleidet erschien er bei Hofe, und der König gebot<br />
ihm, seine Tochter zu küssen. Das hätten sie auch ohne seinen Befehl gerne getan. ‚Fräulein, ihr habt so zu mir gehandelt, dass<br />
ich Euch immer dienen will. Das ist so viel Liebes, dass ich es bis ans Ende meines Lebens nicht abdienen kann, und wenn ich<br />
1000 Jahre alt würde.‘ Er bat um Verzeihung, dass er nicht gleich vor ihr erschienen war, und sie verzieh ihm sofort. Er gab ihr<br />
einen Ring, und küsste sie gleich dreimal auf ihren lieblichen Mund, ehe er sich verabschiedete. Die alte Königin quälte sich so<br />
sehr vor Gram, dass Eneas Lavine erhalten hatte, dass sie vor Schmerz starb. Eneas aber besuchte Lavine in den nächsten beiden<br />
Wochen sooft er wollte, und umarmte und küsste sie, bis schließlich das Hochzeitsfest herankam, auf dem Eneas zum König<br />
gekrönt wurde. Die Hochzeit war das prächtigste Fest aller Zeiten, ausgenommen Barbarossas Pfingstfest. Die Geschichte hat<br />
ihr glückliches Ende.<br />
Für uns kommt einiges an Mühe nach: Wir haben uns über die Liebesdarstellung teils unterhalten, teils gewundert,<br />
teils vielleicht auch mitempfunden. Was daran ist nun mittelalterliche Liebeskonzeption, was der Antike<br />
abgeborgtes Darstellungsmittel? Was ist das besondere Charakteristikum dieser frühhöfischen Minne, die wie eine<br />
Krankheit die Menschen befällt, und nicht, wie später die hochhöfische Liebe, vom Menschen gemeistert werden<br />
kann? Wie steht es mit der Willensfreiheit? Warum ist Dido als Selbstmörderin nicht in der tiefsten Hölle? Der<br />
Stellenwert der Liebeshandlung hat sich von Vergil zum altfrz. Roman, und von dort zur Eneide nochmals, stark<br />
erhöht. Vor allem die Lavinia-Handlung ist eine Erfindung des Mittelalters. Vergil widmet Lavinia genau eine<br />
Zeile. Vergils Aeneis schließt konsequent mit dem Tod des Turnus; Aeneas hat durch den Zweikampf Herrschaft<br />
und Gattin gewonnen; die Frage, ob Aeneas und Lavinia einander liebten, auch nur zu berühren, wäre in dem zur<br />
Verherrlichung des römischen Staats und Kaiserhauses geschriebenen Werk unpassend gewesen. Natürlich liebte<br />
ein wahrer Römer den Staat, nicht seine Gattin. Daher bedarf es bei Vergil auch keines abschließenden Hochzeitsfestes.<br />
Dass Dido Aeneas liebt, bedeutet bei Vergil eine Kompromittierung Karthagos, das von Rom im Kampf<br />
um die Weltherrschaft ausgeschaltet worden war: Die Gründerin Karthagos warf sich dem Mann an den Hals, dessen<br />
Nachkommenschaft von den Göttern ausersehen war, über die Welt zu herrschen. Er jedoch zog es vor, die<br />
Ahnherrin der Römer zu erobern. Die römische Liebesdichtung, etwa Ovids, ist zwar für die gesellschaftliche<br />
Oberschicht Roms geschrieben, aber hat keinen politischen Anspruch. Im Gegenteil, die Figuren der römischen<br />
Sage waren für Liebesgeschichten tabu. Nicht zufällig sind die Frauen der römischen erotischen Literatur entweder<br />
niederen Standes oder Figuren der griechischen Sage. Auch Ovids Heroides kennen einen Brief Didos an<br />
Aeneas, selbstverständlich nicht Lavinias.<br />
Die Eneide zeigt, durch die hochadeligen Gönner Heinrichs und durch den Verweis auf Barbarossas Romfahrt<br />
und sein Pfingstfest, dass sie, wie Vergils Epos, mit Rücksicht auf politisch bedeutende Persönlichkeiten verfasst<br />
wurde. Als römischer Kaiser war Barbarossa sogar Nachfolger des Augustus. Er konnte sich also durch den Stoff<br />
direkt angesprochen fühlen. Doch war es um 1170 auch für den Ahnherren der römischen Kaiser nicht kompromittierend,<br />
eine Liebesehe einzugehen. Eneas entschuldigt sich sogar bei Lavine dafür, dass er sie nicht früher aufgesucht<br />
hat. Man mag darin so etwas wie eine didaktische Funktion für den Hochadel sehen: natürlich waren Fürstenehen<br />
auch in der Barbarossazeit politisch motiviert. Doch wenigstens der Versuch, eine Liebesbindung zu schaffen,<br />
soll gemacht werden.<br />
Für den Römer war Selbstmord legitimes Mittel zur vorzeitigen Beendung des Lebens, wenn man sein politisches<br />
Ziel nicht erreicht hatte. Daher lässt Vergil gleich zwei Personen, die sich Aeneas in den Weg stellen, so<br />
enden: Dido und Lavinias Mutter. Für das christliche Mittelalter ist Selbstmord Todsünde. Lavines Mutter muss<br />
daher an gebrochenem Herzen sterben. Dido hingegen begeht sogar einen doppelten Selbstmord (wenn das<br />
möglich ist), indem sie sich gleichzeitig ins Schwert und ins Feuer stürzt. Wenn wir das sprachliche Bild auflösen,<br />
so hat Amor Dido zu Tode im Herzen verwundet und das Feuer der Minne sie tödlich verbrannt: die Liebe brennt<br />
und sticht ins Herz. Doch da sie in Liebeswahnsinn gefallen war, die Herrschaft über ihre Sinne verloren hatte, wie<br />
der Dichter beteuert, ist die Voraussetzung für eine Todsünde nicht gegeben. Die Minne kann den Menschen<br />
wahnsinnig machen; die Willensfreiheit ist ausgeschaltet.<br />
Auch wenn Minne zu einem glücklichen Ende führt, wie in der Haupthandlung, so wirkt sie lebensbedrohend:<br />
wenn Eneas aus Liebe zu Lavine nicht schlafen kann, so fehlt ihm vielleicht die Konzentration beim Zweikampf.<br />
Dass gerade sie ihm schließlich die Kraft gibt, Turnus zu besiegen, bewirkt die Gegenseitigkeit der Liebe, die<br />
Lavines Brief verbürgt. Doch auch der ist für Eneas zunächst nicht eindeutig: das Mädchen wird mit dem Sieger<br />
verheiratet – was, wenn es sich mit beiden Kandidaten gut stellen möchte, und jedem einen solchen Brief geschrieben<br />
hat? Mit Recht verwirft er diese Zweifel, die sich einschleichen wollen. Doch gewiss ist nur, dass die Liebe<br />
verwundet; ob sie die richtige Liebe ist, die dann auch stärkt und zu einem guten Ende führt, ist ungewiss. Sie ist<br />
letzten Endes eine den Menschen bedrohende Macht.