Literaturgeschichte 750-1500
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selbst dort“ hat die Funktion, die Minnegrottenallegorie aus der mythischen Zeit der Erzählung in die Welt des<br />
Publikums zu führen und mit ihr zu vergleichen: die idealen Liebhaber Tristan und Isolde im Gegensatz zu den<br />
„gewöhnlichen“ Menschen wie wir, die den ‚Bast‘ meist nicht finden und kein ideales Minneverhältnis zu führen<br />
imstande sind. Der dauernde Aufenthalt in der Minnegrotte ist den idealen Liebenden vorbehalten.<br />
Im Gegensatz zu Eilhart betritt Marke die Minnegrotte nicht. Doch verstopft er die Fenster mit Laub, so dass<br />
die Sonne nicht mehr auf die Liebenden scheint. Der Sonnenschein ist nach Gottfrieds Allegorie die Ehre; die<br />
Ehre ist es auch, die als einziges Gut den Liebenden in der Grotte abgeht, und um der Ehre willen kehren sie auch<br />
schließlich an den Hof zurück. Der Preis für die Ehre bei Hofe ist allerdings, dass die Liebenden einander meiden<br />
müssen. Marke verbietet ihnen streng, einander zu treffen. Doch Frauen sind Evas Kinder, und Eva hätte sicher<br />
nicht vom verbotenen Obst gegessen (nach Gottfrieds Meinung war es nicht der Apfel, sondern die Feige 103 ), wenn<br />
es eben nicht verboten gewesen wäre. Schuld daran ist nach Gottfried allerdings nicht, wie in mittelalterlicher Allegorie,<br />
Eva, sondern: der, der sie ihrer Natur nach so geschaffen hat, dass sie Verbote zu übertreten geneigt ist,<br />
hätte ihr nicht verbieten dürfen, das Obst zu essen. 17951ff.:<br />
ez ist ouch noch mîn vester wân, Es ist jetzt noch meine feste Meinung,<br />
Êve enhete ez nie getân,<br />
Eva hätte es nie getan,<br />
und enwære ez ir verboten nie. wenn es ihr nie verboten worden wäre.<br />
Der Verbieter ist schuld. 104 Und so schickte lsolde nach kurzer Zeit einen Boten zu Tristan, er solle zu einem<br />
Stelldichein kommen. Tristan tat wie Adam, und die beiden aßen mit der verbotenen Frucht den Tod: in flagranti<br />
wurden sie von Marke ertappt. Als Marke Zeugen holen wollte, entkam zwar Tristan und rettete so sein Leben,<br />
aber ein weiteres Beisammensein war unmöglich. lsolde reichte ihm ihren Ring zum Abschied und er floh. Isolde<br />
war dadurch gerettet, dass Tristan schon weg war, als Marke mit den Zeugen kam: der feige Marke wollte nicht<br />
selbst Anklage erheben müssen und hatte daher den Zeugen nur erzählt, er habe ein Gerücht gehört, Tristan liege<br />
bei Isolde im Garten – in der Erwartung, Tristan würde noch dort sein, wenn er mit den Zeugen kam, und diese<br />
könnten vor Gericht vorgeschoben werden.<br />
Nach manchen Abenteuern gelangt Tristan zu Isolde Weißhand, die ihn durch ihren Namen an Isolde erinnert. Er<br />
unterhält sie mit Saitenspiel und Gesang; eines seiner Lieder besingt im Refrain seine Geliebte Isolde. Isolde<br />
Weißhand muss das auf sich beziehen; ebenso ihre Umgebung. Tristan gerät in Versuchung, die alte Liebe, die ihm<br />
kein Glück bringt, nur Leid, gegen eine neue zu tauschen. lsolde, sagt er im Selbstgespräch, hat schließlich Gesellschaft<br />
mit König Marke, nur Tristan ist ganz allein. Mit diesen Gedanken wird er freilich seiner Bestimmung untreu,<br />
denn schon sein Name (lat. tristis ‚traurig‘) bestimmt ihn zu diesem Schicksal; Vater und Mutter (bei Eilhart<br />
nur der Vater) waren an ihrer Liebe gestorben; Tristan sollte die Personifikation des Minneleids sein. Und dieser<br />
Tristan erwägt nun, der Freude zu leben, und damit die Welt Gottfrieds und seiner edelen herzen zu verlassen.<br />
Mit diesem Selbstgespräch Tristans bricht das Werk ab. Die Torsohaftigkeit übt auf uns Faszination aus. Einfach<br />
den Zufall am Werk zu sehen und Gottfried zufällig an diesem Punkt sterben zu lassen, befriedigt unsere Phantasie<br />
nicht (obwohl Gottfried sich einmal zîtic im lebene ‚schon weit fortgeschritten im Leben‘, also nicht mehr jung,<br />
nennt, und daher diese banale Deutung sehr wahrscheinlich ist). So wurden die verschiedensten Gründe für den<br />
Abbruch gesucht; Gründe im Verhältnis des Autors zur Gesellschaft, insbesondere Konflikte mit der Kirche wegen<br />
gotteslästerlicher Äußerungen, oder, auf den Bauplan des Werkes bezogen, mit der Unmöglichkeit, das im Prolog<br />
gestellte Programm zu verwirklichen – wie Tristan an seiner Liebe, wäre Gottfried an seinem Werk gescheitert. Der<br />
erste Fortsetzer des Gottfriedschen Tristan, Heinrich von Freiberg, berichtet schon um 1240, also nicht ganz 30<br />
Jahre, nachdem wir uns die letzten erhaltenen Verse des Tristan geschrieben denken, dass Meister Gottfried, der<br />
dieses Buch begonnen hatte, gestorben war und ihm der Tod sein Leben nahm, ehe er dieses Buch vollenden<br />
konnte. Doch ob der Fortsetzer, wenn auch nur wenige Jahrzehnte danach, korrekte Informationen über Gottfried<br />
hatte, weiß man nicht. Eigentlich sagt dieser Beleg nur, dass Gottfried um 1240 schon längere Zeit tot gewesen sein<br />
muss. Aber ob er wirklich bis zuletzt am Tristan gearbeitet hat? Wir werden es nie wissen, und die biographische<br />
Angabe wäre schon deswegen unergiebig, weil wir ja auch sonst über die Person Gottfrieds nichts wissen. Doch der<br />
Versuch, die Torsohaftigkeit als gewollt hinzustellen, zeigt, dass viele von uns nicht in der Lage sind, sich einen<br />
dem Tristan-Roman Gottfrieds entsprechenden Schluß vorzustellen. Man hält die Problematik des Werkes für<br />
unlösbar, und das anscheinend schon im Mittelalter: keiner der Fortsetzer hat sich an das von Gottfried<br />
115<br />
103 Die Feige ist schon seit der Antike als Sexualsymbol gebräuchlich.<br />
104 Gottfried baut diesen Satz so ein, dass er sich nur auf Marke und nicht auf Gott bezieht. Trotzdem ist die Parallele klar und<br />
zusammen mit der Bemerkung über den wintschaffen Krist und anderen zwar jeweils so, dass man jeweils argumentieren kann,<br />
es sei keine Ketzerei und nicht so gemeint und nicht auf den richtigen Gott sondern auf den Gott, den sich die betrügerischen<br />
Menschen selbst machen bezogen (sich dem Vorwurf der Ketzerei auszusetzen, war Gottfried wohl zu klug); doch, wie manche<br />
Interpreten versuchten, es so hinzustellen, als sei Gottfried ganz im Einvernehmen mit den kirchlichen Autoritäten, geht wirklich<br />
nicht. In der Dichtung gab es allerdings etwas wie ‚Narrenfreiheit’ deshalb, weil man ja sogar antike heidnische Literatur lesen<br />
durfte, allerdings nur zur Unterhaltung und nicht als Wahrheit. Und wenn einer Geschichte keine Wahrheit zukommt, wird<br />
ihr Autor auch vor kein geistliches Gericht gezerrt. Das ist für Unterhaltungsliteratur nicht zuständig. Trotzdem sind Gottfrieds<br />
scharfe Vorwürfe gegen Gott interpretatorisch ernst zu nehmen.