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Literaturgeschichte 750-1500

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vorgegebene Programm oder an seine Vorlage, den Tristan des Thomas von der Bretagne, gehalten. Auch wer Gottfried<br />

zutraut, sehr wohl einen Plan für das Gesamtwerk besessen zu haben, muss zugeben, dass wir ihn aus dem<br />

Torso nicht so leicht rekonstruieren können. Das wundert allerdings nicht und sagt schon gar nicht, dass Gottfried<br />

selbst nicht gewußt hätte, wie er das Werk zum Schluß bringen soll, denn wirklich gute Literatur macht dem Publikum<br />

nicht allzu schnell die intendierte Lösung sichtbar. Bis zur Minnegrotte erscheint das Paar als Minneheilige,<br />

die Gottheit Minne scheint über der christlichen Religion gesehen und hat absolute Gewalt über sie. Auch der<br />

christliche Gott hilft ihnen. Dann werden sie schwach und sündig wie Adam und Eva, und schließlich versündigt<br />

sich Tristan an der Liebe, indem er das Unverwechselbare, die Person, an die die Liebe gebunden ist, gegen einen<br />

Namen tauscht. Ist die Sünde gegen das Gebot der höfischen Ehre oder die Sünde gegen die Minne größer? Doch<br />

auch Heilige haben gesündigt, nur hat Gott ihnen die Gnade zu Reue und Buße gegeben. Insofern wäre doch eine<br />

Lösung im Liebestod möglich. Doch: kann eine solche Lösung befriedigen?<br />

Nur wenige Autoren haben nach Gottfried den Weg weiter beschritten, der das göttliche Wesen der Minne, in<br />

Konkurrenz zum christlichen Glauben, konsequent verfolgt. Ulrich von Liechtenstein, der in seiner Autobiographie<br />

‚Frauendienst‘ sein Leben stellenweise nach dem literarischen Vorbild Tristans stilisiert (wobei er allerdings<br />

für manche Szenen Vorbilder hat, die sich bei Eilhart und möglicherweise auch in französischen Fassungen finden,<br />

aber nicht bei Gottfried), läßt seine Herrin von ihm die Teilnahme am Kreuzzug 105 verlangen, dann würde sie<br />

seine Wünsche, auch nach körperlicher Liebe, erfüllen. Er antwortet, dass er den Kreuzzug lieber zu Ehren seiner<br />

Herrin als zur Ehre Christi auf sich nehmen würde, und dass er aus der Hand der Herrin das Kreuz erhalten und<br />

es als ihr Zeichen tragen wolle:<br />

Sît ich durch iuch varen sol,<br />

sô füeget sich diu fuoge wol,<br />

daz ich ouch iwer kriutze trage<br />

Gelaubet, vrowe, daz ich iu sage:<br />

ich næm ez niht von sîner hant<br />

sô gern, der dâ bâbest ist genant,<br />

als von iu, vil sælec vrowe mîn.<br />

Nachdem ich um Euretwillen fahren soll, so ist es schicklich, dass ich auch Euer Kreuz trage. Glaubt, Herrin, was ich Euch sage:<br />

ich nähme es nicht so gerne aus der Hand dessen, der da Papst genannt wird, als von Euch, meine erlauchteste Herrin.<br />

Noch konsequenter als Ulrich von Liechtenstein dem Vorbild Tristans zu folgen war unmöglich. Nach Gottfried hat<br />

es weiterhin reiche erotische Literatur gegeben. Aber diese blieb entweder epigonenhaft dem Denken der<br />

Generation Gottfrieds verhaftet oder suchte ganz neue Wege – manchmal auch beides im selben Werk, wie etwa im<br />

zitierten Frauendienst Ulrichs, den man mit gleichem Recht als bahnbrechend oder als epigonenhaft bezeichnen<br />

kann. Aber ein Fortschreiten des von den „Klassikern“ begonnenen Weges kann man das nicht nennen.<br />

105 Nach dem chronologischen Gerüst des Werkes muss es sich um den von 1228 handeln.

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