Literaturgeschichte 750-1500
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Swer ungefuoge swîgen hieze,<br />
waz man noch von freuden sunge!<br />
Und si abe den bürgen stieze,<br />
daz si dâ [von] niht twunge. 33<br />
Wurden ir die grôzen höve benomen,<br />
daz wær allez nâch dem willen mîn.<br />
Bî den gebûren liez ich si wol sîn:<br />
dannen ists ouch her bekommen.<br />
Wenn jemand den Unfug schweigen hieße, wie viel man dann noch von Freude singen könnte! Und ihn von den Burgen verstieße,<br />
damit er dort nicht die Frohen belästigt. Würden ihm die großen Höfe genommen, so wäre das ganz nach meinem Willen.<br />
Bei den Bauern ließe ich ihn wohl, denn von dort ist er auch hergekommen.<br />
Wenn das Ich von L 57,23 Walthers eigenes Lebensalter trägt, und das ist wohl anzunehmen, könnten wir das<br />
Verdrängtwerden durch den Jüngeren etwa in Walthers Vierzigern, um 1208 - 1218, datieren:<br />
Minne diu hât einen site:<br />
daz si den vermîden wolde!<br />
Daz gezæme ir baz.<br />
Dâ beswært si manegen mite,<br />
den si niht beswæren solde:<br />
wê wie zimt ir daz?<br />
Ir sint vier und zweinzec jâr<br />
vil lieber danne ir vierzec sint,<br />
und stellet sich vil übel, sihts iender grâwez hâr.<br />
Minne hat eine Gewohnheit, die sie lassen sollte! Das stünde ihr besser. Damit quält sie so manchen, den sie nicht quälen sollte.<br />
Weh, wie steht ihr das an? Ihr sind 24 Jahre viel lieber als ihr 40 sind, und sie stellt sich sehr bös an, wenn sie irgendwo graues<br />
Haar sieht.<br />
Minne was mîn frouwe gar,<br />
Minne war ganz meine Herrin,<br />
daz ich wol wiste al ir tougen:<br />
so dass ich alle ihre Heimlichkeiten kannte (‚gut wusste‘).<br />
nû ist mir sô geschehen,<br />
Nun ist es mir geschehen,<br />
kumt ein junger ieze dar,<br />
dass, wenn ein Junger jetzt daherkommt,<br />
sô wirde ich mit twerhen ougen<br />
ich mit schielenden Augen<br />
schilhend an gesehen.<br />
verquer angesehen werde.<br />
Armez wîp, wes müet si sich?<br />
Arme Frau, was müht sie sich ab?<br />
Weiz got wan daz si liste pfliget<br />
Weißgott, wenn sie sich auch auf Künste versteht<br />
und tôren triuget,<br />
und Toren betrügt,<br />
si ist doch elter vil danne ich. sie ist doch viel älter als ich. 34<br />
47<br />
33 daz si dâ von nicht twunge B gegen daz ungefuoge dâ verswunde C zeigt, dass die unsinnige Lesart von B schon in *BC<br />
stand und B einfach abgeschrieben hat, ohne irgendeinen Sinn in der Zeile zu suchen, und C durch Konjektur einen Sinn hergestellt<br />
hat (und dem dadurch geänderten Reim zuliebe Zeile 2 zu waz man danne fuoge funde geändert hat). Wir können die<br />
Qualität mittelalterlicher und neuzeitlicher Konjekturen (die frôn stammt von Lachmann) vergleichen: C stellte recht unbekümmert<br />
einen guten Sinn her, ohne sich zu fragen, wie der Fehler hatte zustandekommen können. Der Philologe Lachmann<br />
stellte an eine Konjektur vor allem die Forderung, dass es sich um leicht verwechselbare Buchstaben handeln solle. Wenn die<br />
Vorlage von *BC *dâ die frôn gehabt hätte, wäre das Entstehen des Fehlers durch Verlesen oder Verhören erklärbar. Lachmanns<br />
Vorschlag trägt auch der Tatsache Rechnung, dass eher schwierige Wörter verlesen werden als einfache; daz man dâ von<br />
uns niht twunge hätte eher Chancen besessen, richtig abgeschrieben zu werden als daz man dâ die frôn niht twunge. Zwingend<br />
ist Lachmanns Vorschlag trotzdem nicht: es könnte auch nach dâ von ein Wort ausgefallen sein, dâ von niht twunge,<br />
wobei man uns oder auch ein anderes Wort ergänzen könnte. Wenn wir zuallerletzt nun auch den Sinn befragen, müssen wir<br />
gestehen, dass von den beiden Homonymen frôn (‚die Herren‘ oder ‚die Frohen‘) keines uns recht paßt. Heffners Wortindex<br />
bietet keine Entscheidungshilfe; dort ist Homonymentrennung schlampig betrieben worden; z. B. ist dort 33,10 ‚(Altar des)<br />
Herrn‘ zusammen mit 48,1 ‚(ich bin gerne bei) den Frohen‘ gereiht. Die beim guten alten Lexer (3. Bd. 528-535) direkt und<br />
durch seine Verweise auf den noch älteren Benecke - Müller - Zarncke zugänglich gemachten Belege lassen uns ‚Herren‘ sofort<br />
ablehnen: ‚Herr‘ wäre hier wohl als Standesbezeichnung zu fassen, und als solche kommt frô nicht nur bei Walther, sondern<br />
auch sonst im Mhd. eigentlich nicht, und wenn dann nur adjektivisch vor; wo mit dem Substantiv ein irdischer Herr gemeint ist,<br />
handelt es sich um Frondienst (frône fem., ‚Herrendienst‘, Rechtsterminus). Bleibt nur ‚die Frohen zwingen‘ – kann man das<br />
überhaupt, wenn es nur mehr Unfrohe gibt? Walther war wohl nicht beckmesserisch; wenn das überliefert wäre, könnte man es<br />
nicht beanstanden. Aber eine Konjektur, die einen Fehler gegen die Logik enthält, würde ich doch nicht wagen, auch wenn<br />
Walther nicht immer die Logik über alles stellte.<br />
N. B. Diese Fußnote soll nur exemplarisch zeigen, wie wenig bei Textverderbnissen aller Scharfsinn letztendlich bringt.<br />
34 In diesem Satz zitiert Walther Wolfram (Parzival 533,20), der damit spielt, dass die Minne als allegorische Figur einerseits<br />
als junges Mädchen dargestellt wird, anderseits aber schon so alt ist wie die Menschheit, also schon eine alte Frau sein müßte.<br />
Walther wird dafür seinerseits von Neidhard bös karikiert (Winterlied 30, 4. Strophe; unten S. 48.).