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Literaturgeschichte 750-1500

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während der Gruß an die Dame selten ist und vor allem nie als senfter gruoz bezeichnet wird. Ich gehe davon aus,<br />

dass Walther wissen mußte, dass sein Publikum ‚der freundliche Gruß meiner Dame‘ verstehen würde.<br />

Dann kommen in diesem Lied zwei Damen vor. WAPNEWSKIs Einwand, dass in einem Minnelied sonst nirgends<br />

zwei Damen vorkommen, lasse ich nicht gelten: Ein ‚Sänger‘ verehrt im Minnelied immer nur eine Dame.<br />

Hier, in der Parodie, wird aber der Konkurrent kritisiert, da darf sowohl die Dame des Sängers als auch die des<br />

Konkurrenten genannt werden. Diese desavouiert in der zweiten Strophe ihren Verehrer Reimar, indem sie das<br />

Ansinnen, einen Kußraub gutzuheißen, zurückweist. Ich halte daher Versuche für unnötig, das mîner vrouwen auf<br />

Reinmars Dame zu beziehen. BERTAUs ‚Besser wäre es, Madame freundlich zu grüßen‘ halte ich für unmöglich,<br />

weil es mîner vrouwen als Dativ ansetzt, es muß aber Genitiv sein (siehe oben). Ich bin aber auch gegen die Deutung:<br />

‚Besser wäre es, mit dem freundlichen Gruß von Madame zufrieden zu sein und nicht sie gegen ihren Willen<br />

zu küssen‘. Oder sind Reinmars und Walthers Dame identisch? WAPNEWSKI hat die Lösung in diese Richtung gesucht,<br />

indem er die Herzogin zur Dame beider erklärte, zu deren Ehre die Hoflyriker ihre Lieder schrieben. Diese<br />

Argumentation ist nicht ganz aus der Luft gegriffen, denn Reinmar hat sich einmal zum Sprecher der Herzogin<br />

gemacht; in der sogenannten ‚Witwenklage‘; einem Trauergedicht auf den Tod Leopolds V., das er der Witwe,<br />

Herzogin Helene, in den Mund legte. Doch müßten wir uns, wenn wir die Deutung WAPNEWSKIs annehmen, die<br />

Herzogin auch als Hauptfigur des ‚Kußraubes‘ denken, und das wäre wohl ein Fauxpas. So eine weitreichende<br />

Folgerung, daß – einmalig im deutschen Minnesang – die Anonymität der Dame gelüftet worden sei (und zwar<br />

durch Walther, falls er hier darauf hinwies, daß seine und Reinmars Dame dieselbe sei), läßt sich auf diesem Lied<br />

nicht aufbauen. Ich bleibe dabei: Walther bezeichnet den freundlichen Gruß seiner Dame als besser.<br />

Als nächstes stellt sich die Frage: Besser als was wäre der Gruß von Walthers Dame? Die Antwort ist wohl:<br />

Walther wendet sich dagegen, dass Reinmar seine Dame überschwänglich preist, um dadurch die anderen Dichter<br />

mattzusetzen. Reinmar behauptet, er tue das, weil seine Dame mit einem Lob, wie es die Konkurrenz ihren Damen<br />

spendet, nicht zufrieden wäre. Reinmar meint natürlich, weil die Konkurrenz so schlecht dichtet. Walther meint,<br />

weil Reinmar von seiner Dame nicht grüßt werde, meine Reinmar, es geschehe, weil er enkan nâch ir vil grôzem<br />

werde niht gesprechen wol (‚sie nicht so hoch loben kann, wie es ihrer Würde entspricht‘). Walther erreicht durch<br />

seine Dichtung wenigstens einen freundlichen Gruß seiner Dame, und das ist mehr wert. Nicht die Damen werden<br />

von Walther gegeneinander ausgespielt, sondern dem Gegner wird eins ausgewischt.<br />

Daß das ein wîp eine bestimmte Frau bezeichnet und nicht ‚irgendeine Frau‘, war natürlich, solange man damit an<br />

Reinmars Minneverhalten dachte – er wird doch nicht jeder Dame den Hof gemacht haben. Einen anderen Stellenwert<br />

bekommt die Sache allerdings, wenn man nicht Reinmars Minneverhalten, sondern seine Dichtung angegriffen<br />

denkt, in der die Dame so abstrakt bleibt, daß sie geradezu beliebig und austauschbar erscheint, und nie<br />

die Verehrung des Sängers erwidert. Das Matt ist erst dadurch abgewehrt, daß der einseitigen, unerwiderten Verehrung<br />

Reinmars das durch den senften gruoz der vrouwe erwiderte Werben Walthers als bezzer entgegengestellt wird<br />

(Birkhan). Eine Paraphrase der strittigen Walther-Strophe könnte dann lauten:<br />

Jemand steigert in einem Spiel ohne Notwendigkeit den Einsatz so hoch, daß niemand mitgehen kann. Er preist in seiner Dichtung<br />

jede beliebige Frau als seinen ‚Auferstehungstag‘ (aber die Dame reagiert nie positiv auf dieses Lob). Schlimm stünde es<br />

um uns andere Leute, wenn wir ihm beipflichten müßten. Ich bin es, der dagegen auftreten muß: meine Lieder handeln von einer<br />

Herrin, die mir einen freundlichen Gruß zuteil werden läßt; und das ist mehr wert. Damit ist das Schachmatt abgewehrt.<br />

Mehrfach wurde in der Forschung die Frage aufgeworfen, wie genau das Publikum die Strophen des Gegners in<br />

Erinnerung gehabt haben muß, um die Anspielungen zu verstehen. Einerseits kann davon ausgegangen werden,<br />

daß es sich um allgemein bekannte Hits der augenblicklichen Stars gehandelt hat; anderseits ist es sogar möglich,<br />

sie sich unmittelbar hintereinander, als eine Art Tenzone (‚Streitgedicht‘), vorgetragen zu denken. Dann kann man<br />

eine einheitliche Deutung annehmen, nämlich: Das mat ist im Bewußtsein von Autor und Publikum präsent und es<br />

genügt, es einmal, und zwar in der letzten Zeile der betreffenden Strophe, zu zitieren.<br />

Mit lobe ich si, sô man ander frouwen tuot (‚Wenn ich sie so lobe, wie man die Frauen anderer zu loben<br />

pflegt‘) meint Reinmar nicht, daß seine Dame von ihm mehr gelobt werden will als die Damen der anderen Dichter<br />

von jenen, sondern daß sie mit einer Dichtung, die nicht besser wäre als das, was Reinmars Konkurrenten fertigbringen,<br />

nicht zufrieden wäre – das kann durchaus gleichzeitig die ‚Dame des Minnesangs‘ sein und nicht nur die<br />

persönliche Dame Reinmars. Dieser behaupteten Spitzenstellung widerspricht Walther.<br />

Meine Paraphrase von Walthers Parodie sieht daher so aus:<br />

Die formale Seite des Streites kann mit einer Wechselrede aus ‚De Amore‘ des Andreas Capellanus verglichen<br />

werden. Das kann zwar nicht heißen, daß es keine Reimar-Walther-Fehde gegeben hätte, sondern nur eine Kabarettaufführung,<br />

in der die beiden Hofdichter feindliche Rollen zu spielen hatten, um verschiedene Formen der literarischen<br />

Frauenverehrung auf den Punkt zu bringen; Walthers Nachruf ist dafür Beweis genug. Doch wird man die<br />

persönliche Beleidigung, auf die Walthers Nachruf anspielt, vielleicht besser von der literarischen Form des<br />

Dichterwettstreits trennen, in der die Fehde ausgetragen wurde – wenn auch die beiden Hauptbeteiligten nicht die<br />

Größe aufgebracht zu haben scheinen, Kunst und Leben zu trennen.<br />

Der ewig klagende und ewig hoffende Sänger Reimars ist nur verständlich, wenn man ihm die Vorstellung zuschreibt,<br />

daß seine Dame ihn eigenlich liebe, aber nur nicht wage, ihm ihre Liebe zu gestehen, weil sie vor allem

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