10 Die Situation der Kämpfer wurde unterschiedlich gedeutet: bei ‚zwischen zwei Heeren‘ denken manche, die beiden Heere müssten einander so nahe gewesen sein, dass die Kämpfer einander sehen konnten, und es habe ein Zweikampf angesichts der Heere stattgefunden, in dem stellvertretend für die beiden Heere je ein Vorkämpfer eine gottesgerichtsähnliche Entscheidung auskämpfen sollte. Die Kämpfer seien gezwungen gewesen, einander zu misstrauen, weil sie nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hätten, sondern auch das Schicksal ihrer
Partei. Das kommt jedoch nirgends im Lied zum Ausdruck. Auch hätten Zuschauer leicht den Sachverhalt aufklären können. ‚Zwischen zwei Heeren‘ begegnen einander in der Heldensage mehrfach Helden auf der warte, dem Vorposten: die beiden Heere sind noch einige Meilen auseinander, dazwischen ist Wald, aber jede Partei will wissen, wie stark der Gegner ist, wo genau sich das feindliche Heer befindet usw. Einzelne Späher werden heimlich ausgesandt, die das erkunden sollen. Dazu nimmt man die stärksten und klügsten Helden, denn auf sich allein gestellt zu sein ist, wenn man plötzlich von einer Gruppe von Feinden entdeckt wird, gefährlich. Wenn Siegfried im Nibelungenlied auf die warte geht, nimmt er es freilich mit dreißig auf einmal auf; dem jungen Alphart werden in ‚Alpharts Tod‘ schon zwei, Heime und Witege, die ihn heimtückisch zu zweit angreifen, zum Verhängnis. Der allein dahinziehende Held, der recke, ist mehrfach Gegenstand der Heldendichtung. Wie könnte der Zweikampf ausgegangen sein? Im Jüngeren Hildebrandslied, das wir in einer erst spätmittelalterlichen Aufzeichnung besitzen, erkennen im letzten Augenblick Vater und Sohn einander, und gehen froh zusammen zur Mutter nach Bern. Der Sohn heißt hier in einer jüngeren Sprachform Alibrand. Dieses Happy-End muss schon spätestens 1250 gedichtet worden sein, denn die Thidreks saga 1 kennt es ebenfalls. In ihr wird die glückliche Rückkehr Thidreks in sein angestammtes Reich dadurch ermöglicht, dass Hildebrands Sohn nach dem glücklichen Erkennen des Vaters die Berner dazu überredet, zum heimgekehrten Thidrek überzugehen. Anders bietet Hildibrands Sterbelied den Schluss: es ist ein Lied in der im 13. Jh. beliebten Form des ‚Rückblicksliedes‘. Auf Island gab es eine recht häufige Sagaform, die die Inhalte älterer Lieder in Prosa nacherzählte und einzelne Strophen daraus an den Höhepunkten der Handlung einfügte. Eine solche ist die um 1300, vielleicht erst nach 1300 entstandene Ásmundar saga. In ihr wird Hildibrand von seinem Halbbruder Ásmundr im Zweikampf erschlagen; sterbend erzählt er Ásmund seine Lebensgeschichte und enthüllt ihm, dass er sein Bruder ist. Diese Erzählung Hildebrands ist einem alten Lied entnommen, und zwar 6 Strophen. Der Liedtyp ‚Rückblicksgedicht‘ ist nicht realistisch, aber war im 13. Jh. beliebt. 2 In Strophe 4 beklagt Hildibrand, dass unter den von ihm Getöteten auch sein svasi sonr, ‚lieber/eigener Sohn‘ (entspricht dem suasat chind des Hildebrandsliedes) ist; der einzige Erbe, den er gegen seinen Willen erschlagen musste. Das Motiv des Vater-Sohn-Kampfes tritt in den Dichtungen verschiedener Völker auf, alle möglichen Varianten des Ausgangs sind belegt: im Griechischen, im Oidipus Tyrannos (‚Ö. der Herrscher‘) des Sophokles, erschlägt der Sohn seinen Vater Laios; im Persischen (der Held heißt dort Rostem; in Firdausis Schahname, dem ‚persischen Königsbuch‘; bekannt ist die deutsche Übersetzung von Friedrich Rückert aus dem 19. Jh.) erschlägt der Vater den Sohn, ebenso im Keltischen (der Held heißt dort CuChullain). Im russischen bzw. besser ukrainischen Heldenlied (der Held heißt dort Ilja von Murom) findet sich der glückliche Schluss; er scheint dort dem ‚jüngeren Hildebrandslied‘ nachgebildet zu sein. Obwohl der Vergleich mit den Parallelüberlieferungen den Ausgang offen lässt, zweifelt niemand daran, dass das alte Hildebrandslied so endete, dass der Vater den Sohn erschlug, wie in ‚Hildibrands Sterbelied‘. Die Dramatik der Fabel, die Beleidigung durch die Zurückweisung des Geschenkes und Hildebrands Reaktion der si doh nu argosto ostarliuto ... lassen wohl keine andere Interpretation zu. DAS WESSOBRUNNER GEBET Manches an der im 13. Jh. auf Island in der ‚Liederedda‘ genannten Sammlung aufgezeichneten V÷luspá 3 (spá ‚Weissagung‘; v÷lu Genitiv zu võlva ‚Seherin, Wahrsagerin‘ 4 , also ‚die Weissagung der Seherin‘; ein mythologisches Gedicht von über 60 Strophen) ist deutlich christliches Gedankengut; eine der Möglichkeiten, das zu erklären, ist, dass man annimmt, sie sei in der Übergangszeit vom Heidentum zum Christentum, also etwa im 10. Jh., entstanden. Eine Vorstellung von der wechselseitigen Beeinflussung christlicher und heidnischer Dichtung ist uns durch den Vergleich von V÷luspá Str. 3 (ich drucke zusätzlich Snorri Sturlusons 5 Fassung ab, den wichti- 1 Eine um 1250 entstandene norwegische Übersetzung von (nur in ihr erhaltenen, im deutschen Original verlorenen) deutschen Heldensagen aus dem Kreis um Thidrek (das entspricht dt. Dietrich). 2 Die Heldendichtung liebt direkte Reden. Die beiden beliebtesten Möglichkeiten, die Lebensgeschichte eines Helden in direkter Rede erzählen zu lassen, waren in Skandinavien im 13. Jh.: entweder ein Seher verkündet dem jungen Mann sein ganzes späteres Lebensschicksal – das Lied steht dann großteils in der 2. Person und die Abschnitte beginnen „Du wirst...“ – oder der Held erzählt unmittelbar vor seinem Tod den Umstehenden seine Lebensgeschichte. Mit so einem ‚Rückblicksgedicht‘ haben wir es hier zu tun. Keine dieser beiden Erzählsituationen ist realistisch. In der Literaturwissenschaft haben wir es immer wieder damit zu tun, dass andere Forderungen des Publikums wichtiger sind als realistische Darstellung: Wenn es dem Publikum wichtig ist, „die ganze Lebensgeschichte“ eines Helden zu erfahren, und nicht nur einen dramatischen Ausschnitt, wie im Hildebrandslied, aber, wie in diesem, direkte Rede vorherrschen soll, hat man fast keine andere Möglichkeit als die beiden genannten. Fällt Ihnen eine Alternative ein? 3 Das Zeichen ÷ bezeichnet im Altisländischen einen offenen hinteren o-Laut; im modernen Isländischen wird ö gesprochen und geschrieben, diese Schreibung und Aussprache (z. B. Völuspa) ist daher häufig anzutreffen, aber historisch unkorrekt. 4 Die Vokale der Stammsilben des zusammengesetzten Wortes Võlu-spá sind õ und á. Diese gehören daher betont, wie in dt. Ottokar. 5 Isländer, † 1241. 11
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