Literaturgeschichte 750-1500
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Lâze mich von dir nemen den trôst,<br />
daz ich ûz mînem langen klagen werde erlôst.<br />
geruochen ‚gewähren‘.<br />
Mein Gesang will erreichen, dass du mir gnädig wirst, gütige Frau: nun hilf, weil jetzt Hilfe not tut. Dein Lohn soll den Dienst<br />
berücksichtigen (‚geruhen, des Dienstes zu gedenken‘); darum bitte ich dich immer und verspreche es bis an meinen Tod. Laß<br />
mich von dir den Trost nehmen, dass ich aus meinem langen Klagen erlöst werde.<br />
Guot wîp, mac mîn dienst ervinden,<br />
ob dîn helfelîch gebot mich vröiden welle wern,<br />
daz mîn trûren müeze swinden<br />
und ein liebez ende an dir bejagen mîn langez gern?<br />
dîn güetlîch gelâz mich twanc<br />
daz ich dir beide singe al kurz oder wiltu lanc.<br />
wern ‚gewähren‘. - bejagen ‚erreichen‘. - gern ‚Begehren‘. - gelâz ‚Bildung, Gestalt, Benehmen‘.<br />
Gute Frau, kann ich als Lohn für meinen Dienst erfahren (‚kann mein Dienst herausfinden‘), ob du hilfreich sein und etwas<br />
befehlen wirst, das mir Freude gewährt (‚ob Dein hilfreiches Gebot mir Freude gewähren wolle‘), damit mein Trauern schwinde<br />
(‚schwinden müsse‘) und mein langes Begehren einen glücklichen Ausgang (‚ein liebes Ende‘) bei dir erreiche (‚erjagen<br />
müsse‘)? Dein gütiges Benehmen zwang mich dazu, dass ich für dich singe – sowohl kurz, oder, wenn du willst, lang.<br />
Werdez wîp, dîn süeziu güete<br />
und dîn minneclîcher zorn hât mir vil vröide erwert.<br />
maht du trœsten mîn gemüete?<br />
wan ein helfelîchez wort von dir mich sanfte ernert.<br />
mache wendic mir mîn klagen,<br />
sô daz ich werde grôz gemuot bî mînen tagen.<br />
Edle Frau, deine liebevolle Güte und dein Liebeszorn haben mich an großer Freude gehindert (‚mir viel Freude abgewehrt‘).<br />
Kannst du mein Gemüt trösten? Denn ein hilfreiches Wort von dir rettet mich leicht (nern ‚retten‘). Verkehre mir mein Klagen<br />
ins Gegenteil (wendic machen ‚ins Gegenteil wenden‘), damit ich noch zu meinen Lebzeiten (‚bei meinen Tagen‘) hochgemut<br />
(‚groß‘ von der Gemütsstimmung) werde.<br />
Die Verzweiflung des noch nicht erhörten Liebhabers („Hilfe tut not“) ergießt sich nicht in hemmungsloser Klage;<br />
er besitzt Kraft genug, sich zu mäßigen. Die Spannung zwischen der mächtigen Leidenschaft und der ebenso<br />
mächtigen Kraft, die sie zurückhält, ist in jedem Vers spürbar.<br />
Nichts kann dagegen die Leidenschaft in den Tageliedern eindämmen: gerade dass den Liebenden nur kurze<br />
Stunden vergönnt sind, führt zur äußersten Konzentriertheit des Erlebnisses. Während dieser kurzen Gemeinsamkeit<br />
liegt nicht das geringste Trennende zwischen den Liebenden. Gerade die Enge der Umarmung beim Abschied<br />
wird besonders betont; etwa (L 7,41; letzte Strophe):<br />
Si beide luste, daz er kuste si genuoc.<br />
Gevluochet wart dem tage.<br />
Urloup er nam, daz dâ wol zam, nu merket wie:<br />
dâ ergie ein schimpf bî klage.<br />
Si hâten beide sich bewegen,<br />
ez enwart sô nâhen nie gelegen,<br />
des noch diu minne hât den prîs.<br />
Ob der sunnen drî mit blicke wæren,<br />
sine möhten zwischen si geliuhten.<br />
Er sprach: „nu wil ich rîten.<br />
Dîn wîplîch güete neme mîn war<br />
und sî mî schilt hiute und her noch zallen zîten.“<br />
Beide gelüstete es danach, dass er sie reichlich küßte. Sie fluchten dem Tag (dem T. wurde geflucht). Er nahm auf geziemende<br />
(zam Präteritum zu zemen) Weise Abschied (urluop); paßt auf, wie: trotz (bî ‚bei‘) ihrer Klage machten sie sich einen Spaß<br />
(ergie ‚erging‘ ein schimpf ‚Spaß‘). Sie hatten sich beide dazu entschlossen (sich zu etwas bewegen ‚entschließen‘), so nahe<br />
beisammen zu liegen, wie noch nie jemand zuvor, und diesen Rekord der Liebe hat bis heute noch niemand eingestellt (es<br />
wurde nie nicht so nahe gelegen, dessen hat die Minne noch den Preis = ‚ist Rekordhalterin‘): Selbst wenn drei strahlende (blic<br />
‚Strahl, Glanz‘) Sonnen am Himmel gestanden wären, so hätten sie nicht zwischen den beiden durch leuchten können. Er<br />
sprach: „Jetzt werde ich fortreiten. Denke in deiner weiblichen Güte an mich und sei heute und immerfort (ze allen zîten) meine<br />
Beschützerin (‚Schild‘).“<br />
Die Illegalität der Verbindung und die Angst vor Trennung führt hier nicht zu einer inneren Entfremdung,<br />
sondern zum engsten möglichen körperlichen Zusammenrücken. Dass es trotzdem nicht zu einem „Verschmelzen“<br />
kommen kann, wird dadurch deutlich, dass auf diese besonders enge Umarmung immer unmittelbar der Abschied<br />
folgt. Ähnliche Späße beim Abschied finden sich auch in den Tageliedern 3,1 usw.