25.12.2013 Aufrufe

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

58<br />

Erec lässt es geschehen, dass das schöne Mädchen sein Pferd zu den Pferden ihres Vaters in den Stall führt und versorgt. Erec<br />

fragt den Gastgeber, wieso seine so schöne und kluge Tochter so ärmlich gekleidet ist. Nun, wer hätte es nicht erwartet, der arme<br />

Vavassor ist aus guter Familie, seine Frau ist sogar die Schwester des Burggrafen, sie sind nur durch zahlreiche Kriegszüge<br />

verarmt. Seine Rüstung hat er sich aber aus besseren Zeiten aufgehoben. Viele Barone hätten seine Tochter gerne geheiratet,<br />

aber er wartet darauf, ob Gott einen König oder zumindest einen Grafen schickt, der um sie wirbt, denn sie hätte es verdient.<br />

Warum so viele Leute am Ort versammelt sind, berichtet er auch: Morgen ist ein Fest, und der Preis ist ein wunderschöner<br />

Sperber, der auf einer silbernen Stange sitzt. Wer den Sperber erwerben will, muss eine schöne und fein gebildete Freundin<br />

haben. Wenn ein Ritter bereit ist, den Ruhm seiner Freundin zu verteidigen, dass sie die schönste ist, wird er sie den Sperber<br />

nehmen lassen. Der Ritter mit dem schönen Fräulein und dem Zwergen hatte in den vorhergehenden Jahren den Sperber errungen,<br />

ohne dass jemand gewagt hätte, zu widersprechen, dass seine Freundin die schönste sei. Heuer, beim dritten Mal, würde der<br />

Sperber endgültig in seinen Besitz übergehen. Nun, Erec erhält von seinem Gastgeber die Rüstung, um gegen den Ritter kämpfen<br />

zu können. Danach 50 nennt er seinen Namen und seinen Vater, bittet um die Hand des Mädchens und will ihre Schönheit<br />

gegen den fremden Ritter verteidigen. Der Kampf dauert lang; in einer Kampfpause sieht Erec seine Freundin an, die ganz sanft<br />

für ihn betet. Als er sie sieht, wächst seine Kraft sehr. Durch ihre Liebe und ihre Schönheit hat er seine große Kühnheit wiedergewonnen.<br />

Erec verwundet den Ritter schwer; der muss sich besiegt geben und seinen Namen nennen. Es ist Yder, Sohn des<br />

Nut. Erec schickt ihn an den Artushof zu Königin Ganievre, die Yder am Vortag so beleidigt hat, und er solle sich in ihre Gewalt<br />

begeben. Erec werde am nächsten Tag mit dem schönsten Fräulein nachkommen. Die Artusritter, darunter Gauvain, sehen den<br />

blutüberströmten Ritter mit Jungfrau und Zwerg nahen; der kluge Seneschall Keu ahnt als erster, das müsse der sein, von dem<br />

die Königin erzählt hat. Während man am Artushof staunend aus Yders Mund die Nachricht vernimmt, feiert Erec noch mit dem<br />

Schwiegervater und dem Grafen, dessen Schwager, den Sieg. Der Graf bietet Erec seine Burg zur Übernachtung an, doch der<br />

lehnt ab und bleibt bei dem Vavassor. Zum Abschied will der Graf die Jungfrau einkleiden und ihr ein kostbares Pferd, einen<br />

weißen Zelter 51 schenken. Das Pferd lässt Erec sie annehmen, doch will er sie in ihrem alten zerrissenen Kleid an den Artushof<br />

bringen, denn sie soll ihr neues Kleid nicht von der Gräfin, sondern von der Königin erhalten. Und so geschieht es auch am<br />

nächsten Tag. König Artus selbst hebt sie vom Pferd; die Königin, die auch durch die Lumpen die Schönheit und das edle Wesen<br />

erkennt, kleidet sie ein. Zufälligerweise hat sich die Königin selbst ein neues Kleid bestellt, das fast fertig ist. Dieses soll das<br />

Mädchen bekommen, das nun wahrhaft königliche und neue (nicht etwa von der Königin getragene und abgelegte) Kleider<br />

erhält: sie können noch vom Schneider angepasst werden (die Verschlüsse hatten noch gefehlt). So betritt sie den Saal. Der<br />

König und alle Ritter erheben sich zu ihrer Begrüßung.<br />

Ritter gab es dort so viele, die sich, als sie (Ganievre und das Fräulein) den Saal betraten, erhoben und ihnen zuwandten, dass ich<br />

nicht einmal von jedem zehnten den Namen weiß, ja nicht einmal von jedem 13. oder 15. Aber von einigen der edelsten Barone<br />

kann ich Euch die Namen genau sagen, nämlich von denen von der Tafelrunde, die die besten der Welt waren. Unter allen<br />

diesen guten Rittern gebührt Gauvain der erste Rang, der zweite Erec, dem Sohn des Lac, und der dritte Lancelot vom See.<br />

Gornemanz von Gohort war der vierte, der ‚Schöne Feigling‘ (Li Biaus Coarz) der fünfte. ... Gandeluz sei als zehnter genannt,<br />

denn an ihm fanden sich viele Vorzüge. Die anderen nenne ich euch ohne nonbre (‚Nummer‘), da es mich langweilt, sie weiter<br />

aufzuzählen.<br />

Auch die Reihenfolge der zehn besten Tafelrundenritter enthält also eine starke hierarchische Wertung von<br />

Gauvain abwärts. Einen Pairs-Gedanken findet man nicht. Wie viele Mitglieder die Tafelrunde bei Chrestien<br />

hatte, wissen wir aus zwei Gründen nicht: Erstens ist syntaktisch nicht ganz klar, ob les autres ‚die anderen‘ sich<br />

auf die Nicht-Tafelrundenmitglieder bezieht, und der Tafelrunde nur die ersten zehn angehören; zweitens, wenn<br />

man annimmt, dass sich die folgenden Namen noch auf die Tafelrunde beziehen, ist nicht sicher, wie viele davon<br />

auf Chrestien zurückgehen. Die Ausgabe von FOERSTER nimmt, aus verschiedenen Handschriften, insgesamt 40<br />

Namen auf; die einzelnen Handschriften enthalten jedoch weniger. Die älteste und beste erhaltene Handschrift des<br />

Erec, H (wenn auch erst aus dem 13. Jahrhundert) hat auch die geringste Zahl, nämlich 18, die jüngeren Handschriften<br />

bieten mehr. In der mittelhochdeutschen Übertragung Hartmanns von Aue, der möglicherweise eine interpolierte<br />

französische Quelle benutzte, sind es schon 140.<br />

Nun, alle diese Ritter schauen sie an, und sie wird karminrot. Das macht sie noch schöner. Artus fragt die Ritter, ob sie ihm<br />

Recht geben, dass dieses Mädchen die schönste ist, und verdient, den die erfolgreiche Hirschjagd abschließenden Kuss zu erhalten.<br />

Alle sagen einstimmig ‚ja‘, und das Mädchen weigert sich nicht, sie ist nicht dumm; dann vollzieht Artus das Kussritual,<br />

der alte Brauch ist gewahrt. „Damit ist die erste Geschichte zu Ende“ 52 : das Problem des Artushofes ist, zumindest vordergründig,<br />

gelöst.<br />

Erec lässt seinem Vater, dem König Lac, von seinem Glück berichten, der Vater der Braut wird reich gemacht, und die Hochzeit<br />

für Pfingsten festgesetzt, und zwar am Artushof. Zahlreiche Könige sind unter den Gästen, der Erzbischof von Canterbury<br />

Frankreich war man sich aber bewußter, dass Literatur der Unterhaltung dient und keinen theologischen Wahrheitsanspruch<br />

hat, als in Deutschland. Insbesondere Hartmann hat alle Stellen, an denen Chrestien ganz ohne Rücksicht auf sein theologisches<br />

Wissen wie naiv erzählt, ‚korrigiert’. Natürlich war Chrestien sowohl guter Christ als auch theologisch gebildet; der Unterschied<br />

zwischen den Autoren liegt nicht im Wissen, sondern im unterschiedlichen Grad der Emanzipation der Dichtung von religiösen<br />

Wahrheiten. Was Chrestien mit dieser Bemerkung ausdrückt, ist: Enide war von idealer Schönheit.<br />

50 Den Erhalt der Rüstung hat Chrestien nicht an die Verlobung geknüpft, damit es nicht aussieht, als hätte Erec ein schönes<br />

Mädchen finden müssen. Er hätte den Ritter auch ohne Teilnahme am Wettkampf zum Zweikampf herausfordern können. Die<br />

Verlobung ist nur durch die Liebe motiviert.<br />

51 Pferd, das im Paßgang geht und daher im Trab den Reiter nicht schüttelt. Paßgang: die Bewegung der Beine erfolgt nicht<br />

gegengleich, linkes Vorderbein und rechtes Hinterbein und umgekehrt, wie beim normalen Trab, sondern gleich: Vorder- und<br />

Hinterbein der selben Seite sind gleichzeitig vorne bzw. hinten.<br />

52 Sie sehen an diesem wörtlichen Zitat, dass Chrestien bisweilen auf die Gliederung des Romans hinweist. Das zeigt, dass auch<br />

uns die Frage der Gliederung nicht unwichtig sein soll.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!