25.12.2013 Aufrufe

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

68<br />

Die Tafelrunde, von Wace eingeführt (Versuche, sie Chrestien zuzuweisen und die Wace-Stellen als Interpolationen<br />

zu betrachten, sind unhaltbar), soll jedenfalls den Hofadel ehren. Wobei auch so hervorragende Leute wie<br />

KÖHLER den Fehler begehen, die Tafelrunde als Platz des Königs und der Großvasallen anzusehen. Bei Wace steht:<br />

die vertrautesten Barone des Königs saßen an der Tafelrunde; die höchsten Beamten seines Hofes, nicht die Großvasallen,<br />

also die abhängigen ausländischen Fürsten, die nur zu bestimmten feierlichen Anlässen am Königshof zu<br />

erscheinen verpflichtet sind. Auch von der „vorbildhaften – wenn auch nicht einmal im Roman völlig herstellbaren<br />

– Ranggleichheit dieser hohen Vasallen untereinander“ (KÖHLER) ist bei Chrestien nicht die Rede. Bei Wace sitzen<br />

zwar die Barone am runden Tisch, also jeder mit zwei Nachbarn, und nicht mit dem König an einem Tisch, es gibt<br />

also keinen ‚letzten Platz‘, den es gäbe, wenn der König bei ihnen säße, denn dann wären die Plätze neben ihm die<br />

nächstbesten. Aber doch setzen sich bei Chrestien alle in der Reihenfolge ihres Ranges, und Chrestien führt gleich<br />

von Anfang an eine deutliche Wertung der besten Tafelrundenritter von 1 bis 10 ein (Gauvain ist der beste, Erec<br />

der zweitbeste ...). Auch dass Artus immer „Symbol eines als vollkommenste menschliche Ordnung gewährleistend<br />

vorgestellten und hingestellten idealen Feudalstaates“ ist, werden wir nach unserer Lektüre des Erec bezweifeln.<br />

Doch einen wichtigen Faktor des Artushofes hat KÖHLER richtig erkannt: Hinter der largesce, der Freigebigkeit,<br />

der obersten Tugend des Königs, verbergen sich die ökonomischen Belange der Lehensgesellschaft. Einerseits<br />

baut der Artusroman auf einem Konsens aller ritterlichen Schichten gegen die Nichtadeligen auf, anderseits kommt<br />

besonders das Anliegen des Kleinadels, der vavassors (denen auch Enides Vater angehört), in der Forderung nach<br />

largesce zum Ausdruck. Ein von KÖHLER selbst nur halbherzig vorgetragener Versuch, auch den Großvasallen die<br />

Möglichkeit einer Identifikation mit Artus zu bieten, überzeugt nicht. Gerade die „kluge Entscheidung“ Erecs, sich<br />

Artus zu unterstellen, werden wir eher gegen als für diesen Gedanken anführen. Wenn wir auch annehmen, dass<br />

sich Großvasallen sicher nicht mit Chrestiens König Artus identifizieren konnten, eher mit seinem Erec, so widersprach<br />

der Roman auch nicht direkt ihren Wünschen. Trotzdem scheint mir KÖHLERs Ansicht, Chrestien berücksichtige<br />

die Interessen aller ritterlichen Schichten gleichmäßig, zu idealistisch gesehen: die largesce wird nur für<br />

treue Dienste zuteil, bedeutet de facto eine stärkere Bindung des Kleinadeligen an den König, als wenn er etwa von<br />

Lasten befreit würde, und die Bindung des Hochadels an den König wird im Erec, wie schon betont, besonders<br />

greifbar. Letzten Endes profitiert von diesem System nur der König.<br />

Damit sind wir gar nicht weit weg von dem, was mit Recht allgemein als Intention des Wace‘schen Brut und<br />

dessen Vorlage, der Historia Regum Britanniae des Geoffrey of Monmouth (1135) angesehen wird, nämlich<br />

Schmeichelei für einen ‚König über Könige‘, und Schmeicheleien für die größeren oder kleineren Adeligen (repräsentiert<br />

durch Erec und den vavassor) haben letzten Endes das Ziel, sie an den Oberkönig zu binden. Wenn<br />

Chrestien im Prolog vom Publikum der Spielleute spricht, nennt er nur Könige und Grafen. Dass beim Vortrag an<br />

einem Fürstenhof jede Menge Volkes zuhörte, kommt nicht vor. Alle Zuhörer unter dem Grafenstand sind außerhalb<br />

der Geschichte nichtexistent, so wie in der Geschichte namenlos. Die ‚Namenserwerbung‘ Enides und ihrer<br />

Eltern zeigt also nicht ein grundsätzliches Recht auch dieses Standes auf einen Namen, sondern gerade, dass nur<br />

ganz außergewöhnliche menschliche Vorzüge berechtigen, diese Barriere zu überschreiten.<br />

Wir fragen uns jedoch, ob Chrestien, der sicher diesen Zustand schildert, mit ihm auch so einverstanden ist wie<br />

Wace, mit einem Wort, ob das soeben gezeichnete Bild ein Idealbild oder ein Abbild eines von Chrestien gar nicht<br />

ideal gesehenen Zustands ist. In der KÖHLER‘schen Argumentation fehlt mir am meisten, dass die augenscheinliche<br />

Schwäche des Artushofes im Erec nicht berücksichtigt wird: relativ zu anderen Orten, wenn sich zeigt, dass der<br />

Artushof auch von außen (Sperberturnier) ritterliche Sitten lernen kann und muss, und absolut, am höfischen Ideal<br />

gemessen, zeigt sich die Schwäche auf Schritt und Tritt, schon bei der Diskussion um die Jagd nach dem weißen<br />

Hirschen: Wir erleben hier einen ganz unorganisierten Aufbruch nach einer unsinnigen, im Alleingang getroffenen<br />

Entscheidung des Königs am Vortag, und wir sehen eine prinzipielle Unsicherheit der Werte. Die Frage, wie der<br />

alte Brauch, der heilig gehalten werden soll, mit den neuen Sitten vereinbar ist, wurde in ihrer Wichtigkeit von der<br />

Hofgesellschaft gar nicht erkannt. Gauvain ist nicht so ideal, dass er jede Schwierigkeit zu meistern versteht. Er ist<br />

gegen die Ausübung des Brauches, will ihn ersatzlos abschaffen, weil er in der neuen höfischen Gesellschaftsordnung,<br />

die er versteht und wohl auch repräsentiert, Schwierigkeiten durch die Ausübung archaischer Bräuche befürchtet.<br />

Die Ursache für die neuen Werte der Gesellschaft ist für Gauvain leicht gefunden: die Hofgesellschaft hat<br />

sich vergrößert. Wir wissen, weshalb sich die Hofgesellschaft vergrößert hat: weil der Artushof so ideal ist, dass<br />

alle Ritter dorthin kommen wollen, um richtiges Benehmen und höfische Sitten zu lernen. Wir erkennen das Paradoxon,<br />

dass gerade ein wesentlicher Bestandteil dieser Vorbildlichkeit, nämlich das Hochhalten der alten Bräuche,<br />

bewirkt hat, dass sich die Hofgesellschaft so vergrößert hat, dass die Ausübung der alten Bräuche behindert wird.<br />

Die Sinnfrage, welche Bedeutung der Brauch haben könnte, wird am Artushof nicht gestellt, auch nicht von Gauvain.<br />

Artus ist für die Beibehaltung des Brauches, weil er eben alter Brauch ist, egal, ob er in die veränderte Gesellschaft<br />

passt, die doch eben er durch seinen Hof geschaffen hat; außerdem ist er an der Jagd interessiert, mehr noch<br />

als am Verbleib seiner Frau. Diese bleibt nicht trotzig zu Hause, sie hat es aber auch nicht eilig, ihrem davonstürmenden<br />

Mann nachzukommen. In Begleitung nur einer Dame reitet sie des Weges. Das ist, wenn wir uns die Freiheit<br />

nehmen, unsere Märchengeschichte auch rationalisierend oder psychologisierend zu betrachten, zwar eine<br />

verständliche Reaktion, aber äußerst leichtsinnig und realitätsfern. Eine Königin darf nach keinem an irgendeinem<br />

Hof geltenden Ehrenkodex ohne ausreichende Begleitung in den ‚Wald der Abenteuer‘ reiten. Artus ist also konservativ,<br />

autoritär, uneinsichtig, nur an seinem Vergnügen interessiert und ungalant. Mit einem Wort, ein idealer<br />

Herrscher. Aber auch sein berühmter Neffe und seine Gattin machen Fehler. Erec hingegen reitet in großer Eile

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!