Literaturgeschichte 750-1500
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Dass bei Hartmann Erec dadurch den Sieg über Mabonagrin erringt, dass er Minne und Mâze zu vereinigen versteht,<br />
zeigt die Rolle der Mâze als Kardinaltugend bei Hartmann: wenn man jede Tugend im richtigen Maß besitzt,<br />
von keiner zu viel oder zu wenig, braucht man nicht die einzelnen Tugenden aufzählen, die ein Mensch besitzt: er<br />
hat die Mâze heißt, er hat alle in ausgewogenem Verhältnis zueinander. Maßhalten ist für Chrestien nirgendwo ein<br />
besonders thematisierter Wert. Chrestiens Erec hat gelernt, die Forderungen, die die Partnerschaft an ihn stellt mit<br />
den Forderungen der Gesellschaft zu vereinigen; er kann sie sogar übertreffen, weil er, indem er die Antwort auf<br />
seine Fragen findet und seine Ehre und Freude wiederherstellen kann, auch die Fragen, die die Ehre und Freude des<br />
Hofes beeinträchtigen, löst. Das macht ihn aber nicht zu einem Befürworter der Mäßigkeit.<br />
Nach dem Sieg über Mabonagrin nimmt Erec die 80 Witwen an den Artushof mit. Dort herrscht eitel Freude<br />
(einen schwachen Artushof wie Chrestien kennt Hartmann nicht) und Erec empfängt von der Hofgesellschaft der<br />
êren krône, das heißt, man sagt von ihm, dass es nie einen Tapfereren oder Besseren gegeben habe, denn noch nie<br />
habe jemand hierzulande durch âventiure mehr erreicht. Das wäre unmöglich gewesen,<br />
wan daz vrou Sælde¬ ir stiure<br />
gap sîner ammen diu sîn pflac<br />
dô er in der wâgen lac<br />
stiure ‚Steuerung, Hilfe‘; wan daz ... gap ‚ausgenommen dass ... gab‘ = ‚wenn nicht gegeben hätte‘; pflegen - pflac - pflâgen -<br />
gepflegen ‚jemanden in seiner Obhut haben‘.<br />
wenn nicht Frau Fortuna seiner Amme geholfen hätte, als er in der Wiege gelegen war.<br />
Das Glück muss einem schon von Geburt an hold sein.<br />
Der Schluß:<br />
Nach der Nachricht vom Tod seines Vaters reitet Erec mit Enite heim nach Karnant im Land Destrigales, wo<br />
man ihn wegen seines großen Ruhmes den wunderære nennt. Schließlich wird er im Rahmen eines von ihm selbst<br />
veranstalteten großen Festes gekrönt. Auch zu seiner Frau besitzt er jetzt das ‚richtige‘ Verhältnis:<br />
Der künec selbe huoter<br />
ir willen swâ er mohte,<br />
und doch als im tohte,<br />
niht sam er ê pflac,<br />
do er sich durch si verlac,<br />
wan er nach êren lebete<br />
und so daz im got gebete<br />
mit veterlichem lône<br />
nâch der werlde krône,<br />
im und sinem wîbe,<br />
mit dem êwigen lîbe.<br />
Durch got des bitet alle<br />
daz uns der lôn gevalle<br />
der uns gote gehulde<br />
(deist goldes übergulde)<br />
nâch disem ellende.<br />
Hie hat diz liet ein ende.<br />
huote Prät. von hüeten ‚beachten‘; swâ ‚überall wo‘; tohte Prät. von tugen ‚für gut erscheinen‘; sam ‚wie‘; pflac prät. von pflegen<br />
‚eine Tätigkeit ausüben‘; verlac Prät. von verligen; wan ‚denn, weil‘; im ... geben ... mit dem êwigen lîbe ‚ihn mit dem ewigen<br />
Leben beschenken‘; durch ‚um ... willen‘; durch got ‚um Gottes willen‘; gevallen ‚zufallen, zuteil werden‘; gote Dativ;<br />
gehulden ‚hold machen, geneigt machen‘; ellende ‚fremdes land, Land in das man verbannt ist‘, in religiösem Kontext oft<br />
‚Jammertal‘ als Bezeichnung für das Diesseits im Gegensatz zum Freude bringenden Paradies.<br />
Der König nahm Rücksicht auf ihre Wünsche, wo immer er konnte, und doch nur, soweit es ihn gut dünkte (d. h. er war sich<br />
der Pflichten bewußt, die der Mann als Vormund der Frau hat, und traf letzten Endes alle Entscheidungen), und nicht wie früher,<br />
als er sich um ihretwillen verlegen hatte, denn er lebte um der Ehre willen, und zwar so, dass Gott ihn und seine Frau nach der<br />
irdischen Krone mit väterlichem Lohn auch mit dem ewigen Leben beschenkte. Betet alle zu Gott, dass uns nach diesem Jammertal<br />
ein Lohn zuteil werden möge, der uns Gott gnädig erscheinen läßt (das ist mehr wert als Gold). Damit endet diese Geschichte.<br />
Die Freude, die Erec in der Erzählung hergestellt hat, hält also nur so lange an, als wir uns in der Fiktion bewegen.<br />
Hier, wo sich der Autor an sein Publikum wendet, und nicht der Erzähler von Figuren spricht, wird theologisch<br />
korrekt darauf hingewiesen, dass die wahre Freude uns erst nach dem Tod erwartet, und im Vergleich dazu die<br />
irdische Existenz jämmerlich ist. Die Bedingung, unter der wir in der Literatur irdische, diesseitige Freude genießen<br />
können, ist nach Hartmann also, dass wir eingedenk sind, dass die ewige Freude die eigentliche Freude ist, die wir<br />
Spur: weder zu früh noch zu spät aufstehen (Erec steht jetzt früh auf, um zur Messe vor dem Kampf gehen zu können, aber nicht<br />
schon überzeitlich, wie in den ersten Nächten der Aventürefahrt), weder zu viel noch zu wenig essen, weder zu viel noch zu<br />
wenig trinken ... das kann doch nur heißen, dass der Held alles im richtigen Ausmaß zu tun gelernt hat.