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Literaturgeschichte 750-1500

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75<br />

Dass bei Hartmann Erec dadurch den Sieg über Mabonagrin erringt, dass er Minne und Mâze zu vereinigen versteht,<br />

zeigt die Rolle der Mâze als Kardinaltugend bei Hartmann: wenn man jede Tugend im richtigen Maß besitzt,<br />

von keiner zu viel oder zu wenig, braucht man nicht die einzelnen Tugenden aufzählen, die ein Mensch besitzt: er<br />

hat die Mâze heißt, er hat alle in ausgewogenem Verhältnis zueinander. Maßhalten ist für Chrestien nirgendwo ein<br />

besonders thematisierter Wert. Chrestiens Erec hat gelernt, die Forderungen, die die Partnerschaft an ihn stellt mit<br />

den Forderungen der Gesellschaft zu vereinigen; er kann sie sogar übertreffen, weil er, indem er die Antwort auf<br />

seine Fragen findet und seine Ehre und Freude wiederherstellen kann, auch die Fragen, die die Ehre und Freude des<br />

Hofes beeinträchtigen, löst. Das macht ihn aber nicht zu einem Befürworter der Mäßigkeit.<br />

Nach dem Sieg über Mabonagrin nimmt Erec die 80 Witwen an den Artushof mit. Dort herrscht eitel Freude<br />

(einen schwachen Artushof wie Chrestien kennt Hartmann nicht) und Erec empfängt von der Hofgesellschaft der<br />

êren krône, das heißt, man sagt von ihm, dass es nie einen Tapfereren oder Besseren gegeben habe, denn noch nie<br />

habe jemand hierzulande durch âventiure mehr erreicht. Das wäre unmöglich gewesen,<br />

wan daz vrou Sælde¬ ir stiure<br />

gap sîner ammen diu sîn pflac<br />

dô er in der wâgen lac<br />

stiure ‚Steuerung, Hilfe‘; wan daz ... gap ‚ausgenommen dass ... gab‘ = ‚wenn nicht gegeben hätte‘; pflegen - pflac - pflâgen -<br />

gepflegen ‚jemanden in seiner Obhut haben‘.<br />

wenn nicht Frau Fortuna seiner Amme geholfen hätte, als er in der Wiege gelegen war.<br />

Das Glück muss einem schon von Geburt an hold sein.<br />

Der Schluß:<br />

Nach der Nachricht vom Tod seines Vaters reitet Erec mit Enite heim nach Karnant im Land Destrigales, wo<br />

man ihn wegen seines großen Ruhmes den wunderære nennt. Schließlich wird er im Rahmen eines von ihm selbst<br />

veranstalteten großen Festes gekrönt. Auch zu seiner Frau besitzt er jetzt das ‚richtige‘ Verhältnis:<br />

Der künec selbe huoter<br />

ir willen swâ er mohte,<br />

und doch als im tohte,<br />

niht sam er ê pflac,<br />

do er sich durch si verlac,<br />

wan er nach êren lebete<br />

und so daz im got gebete<br />

mit veterlichem lône<br />

nâch der werlde krône,<br />

im und sinem wîbe,<br />

mit dem êwigen lîbe.<br />

Durch got des bitet alle<br />

daz uns der lôn gevalle<br />

der uns gote gehulde<br />

(deist goldes übergulde)<br />

nâch disem ellende.<br />

Hie hat diz liet ein ende.<br />

huote Prät. von hüeten ‚beachten‘; swâ ‚überall wo‘; tohte Prät. von tugen ‚für gut erscheinen‘; sam ‚wie‘; pflac prät. von pflegen<br />

‚eine Tätigkeit ausüben‘; verlac Prät. von verligen; wan ‚denn, weil‘; im ... geben ... mit dem êwigen lîbe ‚ihn mit dem ewigen<br />

Leben beschenken‘; durch ‚um ... willen‘; durch got ‚um Gottes willen‘; gevallen ‚zufallen, zuteil werden‘; gote Dativ;<br />

gehulden ‚hold machen, geneigt machen‘; ellende ‚fremdes land, Land in das man verbannt ist‘, in religiösem Kontext oft<br />

‚Jammertal‘ als Bezeichnung für das Diesseits im Gegensatz zum Freude bringenden Paradies.<br />

Der König nahm Rücksicht auf ihre Wünsche, wo immer er konnte, und doch nur, soweit es ihn gut dünkte (d. h. er war sich<br />

der Pflichten bewußt, die der Mann als Vormund der Frau hat, und traf letzten Endes alle Entscheidungen), und nicht wie früher,<br />

als er sich um ihretwillen verlegen hatte, denn er lebte um der Ehre willen, und zwar so, dass Gott ihn und seine Frau nach der<br />

irdischen Krone mit väterlichem Lohn auch mit dem ewigen Leben beschenkte. Betet alle zu Gott, dass uns nach diesem Jammertal<br />

ein Lohn zuteil werden möge, der uns Gott gnädig erscheinen läßt (das ist mehr wert als Gold). Damit endet diese Geschichte.<br />

Die Freude, die Erec in der Erzählung hergestellt hat, hält also nur so lange an, als wir uns in der Fiktion bewegen.<br />

Hier, wo sich der Autor an sein Publikum wendet, und nicht der Erzähler von Figuren spricht, wird theologisch<br />

korrekt darauf hingewiesen, dass die wahre Freude uns erst nach dem Tod erwartet, und im Vergleich dazu die<br />

irdische Existenz jämmerlich ist. Die Bedingung, unter der wir in der Literatur irdische, diesseitige Freude genießen<br />

können, ist nach Hartmann also, dass wir eingedenk sind, dass die ewige Freude die eigentliche Freude ist, die wir<br />

Spur: weder zu früh noch zu spät aufstehen (Erec steht jetzt früh auf, um zur Messe vor dem Kampf gehen zu können, aber nicht<br />

schon überzeitlich, wie in den ersten Nächten der Aventürefahrt), weder zu viel noch zu wenig essen, weder zu viel noch zu<br />

wenig trinken ... das kann doch nur heißen, dass der Held alles im richtigen Ausmaß zu tun gelernt hat.

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