Literaturgeschichte 750-1500
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Die Macht der Minne ist absolut; sie kann sogar Haß in Liebe verkehren. Bei Eilhart wird der Boden für die<br />
Liebeshandlung schon vorbereitet, wir warten schon darauf, dass die Liebe ausbricht, nachdem die Sympathie der<br />
beiden Protagonisten bereits offenkundig ist. Zunächst will Tristrant ja für sich selbst werben, und auch Isalde ist<br />
dieser Meinung. Man denke daran, wie Isalde Tristrant auf den Mund küßt und ihn an der Hand nimmt, um ihn vor<br />
den König zu führen. Gottfried vermeidet solche Zärtlichkeiten vor der Trankszene. Dafür gibt der Roman in<br />
der Fassung des Thomas von Britannien, die Gottfried als Vorlage wählte, die Gelegenheit, die beiden länger<br />
unbewußt Sympathien für einander entwickeln zu lassen: Tristan hat Isolde schon bei seinem ersten Irlandaufenthalt<br />
gesehen. Um die von Morold geschlagene Wunde zu heilen, sucht er, als Spielmann Tantris verkleidet, Irland<br />
auf, und unterweist als Entgelt für seine Heilung durch die Königin deren Tochter, Isolde, im Saitenspiel. Die Heilkundige<br />
ist bei Gottfried also nicht Isolde, sondern ihre Mutter. Nach der Rückkehr nach Cornwall löst nicht ein<br />
Schwalbenhaar die Werbung aus, sondern Tristan selbst ist es, der die Schönheit Isoldes preist und dadurch den<br />
Rat der Barone, Marke solle Isolde heiraten, auslöst, und Tristan begibt sich auf Werbungsfahrt für seinen Onkel<br />
nach Irland, nicht ins Ungewisse. Als nach dem Drachenkampf die Frauen den ohnmächtigen Tristan erwecken,<br />
erkennt Isolde sofort ihren früheren Lehrer, den Spielmann Tantris in ihm. ‚Tantris‘ erzählt ihrer Mutter, er sei als<br />
Kaufmann unabsichtlich nach Irland verschlagen worden, und habe den Drachen erschlagen, um vor den Iren, die<br />
(seit dem Moroldkampf) alle Fremden verfolgen, Gnade zu finden. Dass er weiß, dass Isoldes Hand dem Drachentöter<br />
versprochen ist, verschweigt er. Die Frauen versprechen, ihm die Gnade des Königs zu erwirken. Isolde betrachtet<br />
den allmählich genesenden Spielmann / Kaufmann Tantris mit wohlgefälligen Augen, und ihr tut leid,<br />
dass er so niederen Standes ist (dadurch kommt eine Ehe nicht in Frage). Doch trotz des Mitleids mit seinem<br />
Schicksal und dem Empfinden seiner Schönheit stellt sich noch nicht Liebe ein. Und diese gerade erst keimende<br />
Zuneigung wird durch den Haß erstickt, als sie durch den Splitter, der in sein Schwert paßt, erkennt, dass sie den<br />
Mörder ihres Onkels vor sich hat.<br />
Nû begunde ir herze kalten<br />
Nun erkaltete (‚begann zu erkalten‘) ihr Herz<br />
umbe ir schaden den alten.<br />
wegen ihres alten Leides.<br />
‚Erkalten‘ impliziert, dass sich ihr Herz vorher schon erwärmt haben muss; aber der Onkel, die familiäre<br />
Bindung, ist in ihr noch stärker als die Gefühlsbindung an den mit der Familie verfeindeten Mann. Isolde droht<br />
nicht mit ihrem Vater, sondern hebt selbst das Schwert, um ihren Oheim zu rächen. Dass sie es doch wieder sinken<br />
läßt, motiviert Gottfried doppelt: einerseits durch die Fürbitte ihrer Mutter und deren Hinweis, dass Tristan<br />
unter ihrem persönlichen Schutz steht; anderseits weist er darauf hin, dass Isolde auch dann Tristan nicht getötet<br />
hätte, wenn er wehrlos und sie mit ihm allein gewesen wäre, da sie nicht das Herz zu einer solchen Tat gehabt<br />
hätte. Doch ist Isoldes Haß wegen des Todes ihres Onkels viel größer als bei Eilhart. Den Versöhnungskuß bietet<br />
sie ihm nur mit langer widerunge ‚nach langem Widerstreben‘. Auch erklärt Tristan noch vor den Frauen, dass er<br />
für Marke werben will, Isolde lebt also nach der Versöhnung nicht in der Erwartung, Tristan werde um ihre Hand<br />
anhalten. Auch als Tristan vor der Öffentlichkeit beweist, dass er den Drachen getötet hatte, die öffentliche Versöhnung<br />
der beiden Völker stattfindet und Tristan die Werbung für Marke nun auch öffentlich vorbringt, hat Isolde<br />
Morolds Tod noch nicht verwunden und hält an ihrem Haß gegen Tristan fest. Allerdings ist sie von der Heirat mit<br />
Marke genauso wenig begeistert. Tristans Versuch, sie während der Überfahrt zu trösten, weist sie zurück. Sie<br />
wirft Tristan sogar vor, sie hätte noch lieber den Truchsessen geheiratet, als sich in ein fremdes Land verschachern<br />
zu lassen. Trotzdem ist es nicht so, dass der Minnetrank als Werkzeug des Zufalls erscheint: Haß ist näher an<br />
Liebe als Gleichgültigkeit. Und Tristan hat ja schon durch sein wortreiches Lob Isoldes vor Marke gezeigt, dass<br />
Isolde auf ihn einen tieferen Eindruck gemacht hatte, als er sich selbst vielleicht bewußt war. Dass Gottfried konsequent<br />
alle Zärtlichkeiten vor der Trankszene getilgt hat, läßt die Verwandlung noch deutlicher werden, die<br />
die Liebe an den Menschen bewirkt. Und der Trank allein bewirkt noch nicht den Ausbruch der Liebe: er ist nur<br />
auslösendes Moment dafür, dass die Minne sich in beider Herzen einschleicht. Die eigentliche Arbeit verrichtet<br />
nicht der Rauschtrank, sondern die Gottheit Minne selbst (11711 ff.):<br />
Nû daz diu maget und der man,<br />
Îsôt unde Tristan,<br />
den trank getrunken beide, sâ<br />
was ouch der werlde unmuoze dâ,<br />
Minn’, aller herzen lâgærîn,<br />
und sleich z’ir beider herzen în.<br />
Ê si wurden gewar,<br />
dô stiez si ir sigevanen dar<br />
und zôch si beide in ir gewalt:<br />
si wurden ein und einvalt,<br />
die zwei und zwivalt wâren ê;<br />
si zwei enwâren dô niht mê<br />
widerwarten under in:<br />
Îsôte haz der was dô hin.<br />
Diu süenærinne Minne<br />
diu hæte ir beider sinne<br />
von hazze alsô gereinet,<br />
mit liebe alsô vereinet,<br />
Als nun die Jungfrau und der Mann<br />
Isolde und Tristan<br />
beide den Trank getrunken hatten, war sofort<br />
die Unruhestifterin der Welt da,<br />
Minne, die allen Herzen nachstellt,<br />
und schlich in ihr beider Herzen hinein.<br />
Bevor sie dessen gewahr wurden,<br />
steckte sie dort ihr siegreiches Feldzeichen auf<br />
und zog sie beide in ihre Gewalt:<br />
sie wurden eins und ein Ganzes,<br />
die zuvor zwei und zweifältig gewesen waren,<br />
sie beide waren da einander<br />
nicht mehr feind:<br />
der Haß Isoldes war vorbei.<br />
Die Friedensstifterin Minne<br />
die hatte die Sinne ihrer beider<br />
so von Haß gereinigt,<br />
so in Liebe vereint,