Literaturgeschichte 750-1500
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HARTMANN VON AUE, EREC<br />
1. Inhaltliche Unterschiede zu Chrestien<br />
Zu Beginn halten wir auch anscheinend belanglose Unterschiede fest, die aber dennoch auf eine andere Einstellung<br />
Hartmanns hindeuten; im weiteren Verlauf beschränken wir uns auf einige wichtige Beispiele. Ich führe die Verszahlen<br />
von Hartmanns Erec an.<br />
1 Nicht nur ein Hoffräulein, sondern alle Hofdamen sind bei der Königin; der Anstand ist gewahrt.<br />
3 (Erec) der sælden pflac ‚der von Fortuna begünstigt war‘. Nie findet sich dergleichen bei Chrestien. Die<br />
Sælde ist eine allegorische Figur, das personifizierte Glück, das in einer Kriegerkultur so wichtig ist. In der römischen<br />
Kultur war Fortuna die wichtigste Soldatengottheit. In einer christlichen Kultur ist auch das Glück der Vorsehung<br />
Gottes unterworfen, daher werden bei Hartmann Sælde und Gottes Gnade in eins gesetzt.<br />
5 es fehlt die Einflechtung der gleichzeitigen Jagd, damit entfällt die erste ‚Verschachtelung‘ Chrestiens.<br />
137 ist daz mich got sô gêret daz er min heil mêret, daz mir dar an gelinget ‚Wenn mich Gott damit ehrt, dass<br />
er meine Glückseligkeit mehrt, indem es mir gelingt (mich zu rächen)‘.<br />
Das von Hartmann eingeführte Glück wird immer wieder mit dem christlichen Gottesbegriff verbunden. Der<br />
miles christianus, der christliche Ritter, ist ein zentraler Begriff der Zeit der Kreuzzüge und damit Hartmanns.<br />
150 zeigt Erec jugendlich unbesonnen: er überlegt erst, dass es zu weit ist, seine Waffen zu holen, nachdem er<br />
sich von der Königin verabschiedet hat.<br />
160 bleibt die Erzählung bei Erec. Auch hier findet sich keine Verschachtelung, sondern einsträngiges Erzählen.<br />
Der komplizierte Aufbau, auf den Chrestien so stolz war, scheint Hartmanns Prinzip einer klaren, wohlgeordneten<br />
Erzählfolge widersprochen zu haben.<br />
167 enthält eine typisch Hartmannsche Reflexion:<br />
er tet als dem da leit geschiht:<br />
der vlîzet dicke sich dar zuo<br />
wie erz mit vuoge widertuo<br />
tet Präteritum von tuon; sich vlîzen ‚sich befleißigen, sich bemühen‘; dicke ‚oft‘; erz = er ez; vuoge ‚Anstand‘; wider-tuon<br />
‚rückgängig machen‘.<br />
‚Er handelte wie einer, dem Leid geschieht: so einer bemüht sich sehr, es anständig wieder gutzumachen‘, nicht etwa einfach: ‚er<br />
bemühte sich, das Leid, das ihm widerfahren war, gutzumachen‘.<br />
Das Allgemeine, Typische am Handeln der Figuren wird betont. Wir haben es zwar mit Charakterzeichnung<br />
zu tun, aber der Charakter wird einem Typus zugeordnet.<br />
175 Der Name der Burg (Tulmein) und des Herzogs (Îmâîn) werden sofort genannt; auch erfahren wir sofort<br />
vom Erzähler die Geschichte vom Sperberpreis. Auch Chrestiens Erzähler ist auktorial und allwissend (also nicht<br />
davon abhängig, dass eine bestimmte Figur, aus derem Blickwinkel erzählt wird, etwa Erec, etwas bemerkt). Aber<br />
Chrestien spielt mit dem Publikum, wann und was es erfahren soll. Hartmann ist mehr bereit, die Neugierde gleich<br />
dann zu befriedigen, wenn sie eintritt. Auch damit wird die anspruchsvolle Verschachtelung der Geschichten, die<br />
Chrestien konstruiert hatte, reduziert.<br />
191 diz muose jærlîche sin ze vreuden sîner lantdiet. von der rede er niemen schiet, niuwan daz gelîche arme<br />
unde rîche, alte unde junge durch schœne handelunge ze sîner vreude kæmen ‚das veranstaltete er (Imain) jährlich<br />
zur Freude der Bevölkerung seines Landes. Niemanden nahm er davon aus, damit Arm und Reich, Alt und Jung um<br />
des schönen Festes willen zu seiner Lustbarkeit käme.‘ Gegen Chrestien:<br />
Das sind die Barone (freier übersetzt: der ganze Adel) aus der Umgebung; Jung und Alt sind zu einem Fest gekommen, das<br />
morgen an diesem Ort stattfinden wird.<br />
Zwar umstehen auch Chrestiens Sperber vilains 60 , Landvolk, so dass man nicht an den Vogel herankommt; aber<br />
sie sind nicht eingeladen, sondern sie werden vom Grafen (der als positive Figur gezeichnet ist) mit der Reitpeitsche<br />
in der Hand weggetrieben. Hartmanns Romane sind von einer Utopie der anständigen Behandlung der Armen<br />
durch die Reichen erfüllt.<br />
200 swes vriundinne den strît behielte ze siner hôchzît, daz si diu schœniste wære, diu næme den sparwære<br />
‚Wessen Freundin den Wettstreit bei seinem Fest gewönne, die schönste zu sein, die solle den Sperber nehmen. ...<br />
Man behauptete zwar, dass dort manche Frau schöner sei als die Dame des Ritters, aber seine Tapferkeit zeigte sich<br />
daran, dass man sich so vor ihm fürchtete, dass er ihn gewaltsam nehmen konnte.‘ Gegen Chrestien:<br />
Wenn ein Ritter so kühn ist, dass er den Ruhm und das Lob seiner Freundin als der schönsten von allen behaupten will, dann<br />
wird er sie vor aller Augen den Sperber von der Stange nehmen lassen, sofern kein anderer es wagt, ihm Widerstand zu leisten.<br />
60 Lat. villa ‚Landhaus‘; ein villanus ist daher ein ‚Landbewohner‘, aber mit stark peiorativer Bedeutung: ‚grober Bauernlümmel‘<br />
und ‚Bauer‘ sind für die ritterliche Gesellschaft synonym. Neufranzösisch bedeutet das Wort ‚Schurke, Verbrecher‘; daran<br />
kann man die Geringschätzung des Landvolkes durch den Adel erkennen.