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Literaturgeschichte 750-1500

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Veldeke oder Heinrich von Morungen (ich bin keiser âne krône ‚ich bin Kaiser ohne Krone, weil ...‘, MF 142,19),<br />

sondern dass die Lieder erst dann einen vollen Sinn ergeben, wenn eine tatsächliche Herrschaft mit dem Besitz der<br />

Geliebten verglichen wird. Das Kaiser„motiv“ ist ins tatsächlich Imperiale übersetzt, und erst dadurch bekommen<br />

diese Gedichte den Charakter des Unverwechselbaren.<br />

HEINRICH VON MORUNGEN<br />

Heinrich von Morungen war Thüringer, aus dem staufischen Kreis. „Morungen singt nicht, weil er froh ist, sondern<br />

weil ihn die höfische Gesellschaft dazu zwingt“ (KRAUS / BERTAU).<br />

Zwanghaft erscheint seine Minne wirklich. Von Elfen (MF 126,8) werden Männer ver- und bezaubert, oder<br />

die Dame besitzt die zauberischen Fähigkeiten der Göttin Venus (138,33). Der Held seiner Lieder ist nur dazu<br />

geboren, seiner Dame zu dienen, wenn er auch zu schüchtern ist, seine Liebe in ihr Angesicht zu gestehen. Nur in<br />

seinen Liedern wagt er sie zu preisen (MF 135,19; 136,17):<br />

Ich hân sô vil gesprochen und gesungen,<br />

daz ich bin müede und heis (‚heiser‘) von der klage.<br />

Das ‚heiser‘ sagt uns: Das Leid ist zwar Quell der Liebesdichtung, aber sein Übermaß und seine allzu lange Dauer<br />

schädigen die Kunst; ohne Freude oder zumindest Vorfreude ist auch Kunst nicht denkbar. Die echte Herzensklage<br />

verlangt auch nicht unbedingt nach dem Wort:<br />

Wolte si mîn denken für daz sprechen Wenn sie mein Denken statt des Sprechens<br />

und mîn trûren für die klage verstân, und mein Trauern statt der Klage verstehen wollte,<br />

sô müese in der niuwen rede gebrechen. gäbe es keine neue Dichtung für das Publikum<br />

(‚müßte in ‚ihnen‘ an der neuen Rede gebrechen‘).<br />

Owê, daz iemen sol für fuoge hân, O weh, daß es jemand für anständig halten soll,<br />

daz er sêre klage,<br />

daß er etwas sehr beklagt,<br />

daz er doch von herzen niht meinet, was er doch nicht von Herzen meint,<br />

alse einer trûret und weinet<br />

während ein anderer trauert und weint,<br />

und er sîn niemen kan gesagen.<br />

und davon niemandem sagen kann.<br />

Die unmäßige Liebe bringt Morungens Sänger um sein Seelenheil und führt ihn in den Tod. Schon der Anblick<br />

seiner Dame bereitet ihm nicht nur so viel Freude wie der Mai, sondern wie die frohe Botschaft des höchsten<br />

kirchlichen Festes, der Auferstehung (MF 140,11):<br />

Si ist des liehten meien schîn und mîn ôsterlîcher tac<br />

Sie ist der Schein des hellen Mai und mein Ostertag.<br />

MF 139,11 kokettiert er mit dem Tod und dem Nachruhm des Dichters zugleich (der Dichter starb aber nicht<br />

so früh wie sein lyrisches Ich; ca. 1220, gut 2 oder 3 Jahrzehnte nach diesen Liedern, erscheint er in einer Urkunde<br />

als miles emeritus [pensionierter Ritter]):<br />

Ich tuon sam der swan, der singet, swenne er stirbet.<br />

waz ob mir mîn sanc daz lîhte noch erwirbet,<br />

swâ man mînen kumber sagt ze mære,<br />

daz man mir erbunne mîner swære?<br />

Ich handle (‚tue‘) wie der Schwan, der singt, wenn er stirbt. Ob meine Dichtung noch dazu führt (‚was, wenn mir mein Sang das<br />

vielleicht noch erwirbt‘), daß man mich (mhd. Dativ) um meinen Kummer (mhd. Genitiv) beneidet (erbunnen ‚beneiden‘), wenn<br />

man irgendwo die Lieder von meiner Beschwernis vorträgt.<br />

Der Zwang, dem der Sänger unterliegt, führt dazu, daß er seiner Dame Lieder singt – singen muß, weil wortlose<br />

Trauer von ihr nicht verstanden würde. Die Schönheit dieser Lieder führt dazu, daß ihn mancher deswegen<br />

beneidet; der Sänger selbst scheint das aber bitter ironisch zu sehen, wie die Formulierung als Frage vermuten<br />

läßt; er zieht aus diesem Beneidetwerden keinen Gewinn. Es sieht eher so aus, als wäre es ein großes Mißverständnis<br />

der Bewunderer, wenn sie glauben, ein Zustand wie der des Morungen’schen Sängers sei bewundernswert (daß<br />

Morungens Sänger dabei durchblicken läßt, daß er ‚weiß‘, daß er gut ist, also mit dem Nachruhm kokettiert, ist<br />

zwar offensichtlich, aber nicht die Hauptaussage). Im Gegensatz zu Reimar, der dieses Motiv Morungens übersteigert,<br />

indem er stolz ist auf seine Leistung, was aber seinen Schmerz unglaubwürdig erscheinen läßt. Ob Reimar<br />

Morungen übersteigert oder Morungen Reimar korrigiert, kann man nicht sagen, weil beide ungefähr gleichzeitig<br />

lebten. In den wenigen Zitaten, in denen uns die Richtung der Übernahme eindeutig zu sein scheint, ist Morungen<br />

der Gebende, und so wird es auch hier sein.<br />

Auch die Dame Morungens unterliegt einem Zwang: sie wird gezwungen, den Minnedienst über sich ergehen<br />

zu lassen. Die Nichterhörung führt zu Aggressionen, aber nicht mit der Wirkung, daß der Sänger die Dame verläßt<br />

(außer im Lied vom „verweigerten Kuß“ [MF 141,37]: dort schwört der Sänger noch bei Lebzeiten der Dame ab,<br />

die ihn mit gewalt wegstieß; selbst wenn er dafür einst in der Hölle braten sollte), sondern daß er ihr bis nach dem<br />

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