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Literaturgeschichte 750-1500

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Die Interpretation, die ich für die richtige halte, ist am ausführlichsten von Peter WAPNEWSKI begründet worden;<br />

obwohl Peter DRONKE und andere ihr widersprochen haben, halte ich sie für die einzige mögliche.<br />

Wapnewski hat einerseits nachgewiesen, daß in ein ander land fallen ein Fachausdruck der Falknerei ist. Daß<br />

Beizvögel fliehen oder auch sich nur ‚schuldlos‘ verirren, kommt öfter vor; meist halten sie sich jedoch in der Nähe<br />

der vertrauten Umgebung auf, auch wenn sie das heimatliche Revier verlassen haben. Die Antwort auf die zweite<br />

Frage scheint selbstverständlich: wenn ein Falke entflogen ist und hoch in den Lüften kreist, kann man ihn nur<br />

wiedererkennen, wenn er noch das Geschüh und den Schmuck trägt, mit dem er einem entflogen ist. Wäre der<br />

Falke ‚in fremde Lande‘ entflohen und hätte dort von einem neuen Herrn bzw. einer neuen Herrin neue Fesseln<br />

angelegt erhalten, könnte man ihn nie wiedererkennen, falls er doch einmal wieder über seinem alten Revier kreisen<br />

sollte. KRAUS und DRONKE haben anscheinend nie einen Falken fliegen sehen.<br />

Dann ergibt sich die Interpretation des Liedes: Der Geliebte ist einer Frau ‚entflogen‘, doch er trägt noch, wiewohl<br />

anscheinend frei in den Lüften schwebend, die Fesseln der alten Bindung, und kreist noch zeitweise über<br />

seinem alten Revier. Die Hoffnung, ihn zurückzuerobern, scheint also nicht ganz vergeblich, und die Frau macht<br />

sich vor, daß eigentlich beide einander lieb haben wollen. Die letzte Zeile, in der die Frau Gott anruft, ist nicht<br />

resignierend-altruistisch, sondern egoistisch gesprochen, trotzdem ‚bescheiden‘ allgemein formuliert. Es bleibt fast<br />

in der Schwebe, ob die Frau selbst diese Zeile spricht oder der Dichter, wenn auch die literarische Tradition, in der<br />

das Lied steht, das Publikum annehmen lassen mußte, daß der Wunsch der Frau vergeblich ist; sicher ist die letzte<br />

Zeile nicht als Hinweis des Dichters auf ein mögliches Happy-End zu verstehen. Gerade das gehört zu den besten<br />

Leistungen des Kürenbergers.<br />

Einige Strophen des Kürenbergers gehören dem Typus des ‚Männergedichts‘ an: (MF 10,17)<br />

Wîp unde vederspil diu werdent lîhte zam.<br />

swer si ze rehte lucket, sô suochent si den man.<br />

als warb ein schœne ritter umbe eine vrouwen guot.<br />

als ich daran gedenke, sô stêt wol hôhe mîn muot.<br />

Frauen und Beizvögel sind leicht zu zähmen (‚werden leicht zahm‘).<br />

Wenn man (‚Wer‘) sie richtig lockt, so kommen sie freiwillig herbei (‚suchen sie den Mann auf‘).<br />

So warb ein schöner Ritter um eine edle (‚gute‘) Dame.<br />

Wenn ich daran denke, bin ich hochgemut (‚steht mein Gemüt hoch‘).<br />

Sie erkennen hier, was ein Symbol ausmacht. Nicht jeder Beizvogel der Literatur muß ein Mann sein, wenn es<br />

einer einmal war. Ein und dasselbe Symbolobjekt kann verschiedene Eigenschaften haben, und je nach Kontext<br />

ist daraus unterschiedliche Symbolbedeutung herzustellen: wenn man die Eigenschaft des Falken ‚Freiheitsdrang‘<br />

aktualisiert, ist er in dieser Gesellschaft ein Mann, wenn man die Bedeutung ‚kann angelockt und gezähmt werden‘<br />

aktualisiert, kann es sich auch um eine Frau handeln.<br />

Jedenfalls geschieht die Verteilung der Symbolwerte aus einer männlichen Perspektive. Eine andere Kürenbergerstrophe<br />

ist für Moralisten sogar arger Sexismus (MF 8,9):<br />

Jô stuont ich nehtint spâte vor dînem bette<br />

dô getorste ich dich, vrouwe, niwet wecken.<br />

‚des gehazze got den dînen lîp!<br />

jô enwas ich nicht ein eber wilde‘, sô sprach daz wîp.<br />

Spät nachts stand ich vor deinem Bett, da wagte (turren ‚wagen‘) ich nicht, dich, Herrin, zu wecken. ‚Dafür soll Gott dich hassen,<br />

ich war ja kein wilder Eber,‘ sprach die Frau.<br />

Doch auch hier findet sich die Tendenz zu tiefsinniger Deutung: Parodie der Dichtungsgattung „Hohe Minne“, statt<br />

einfach Parodie des Fehlverhaltens eines ängstlichen Mannes vor der Frau, die ihn erwartet. Eine andere<br />

Möglichkeit, die großen deutschen Dichter sauber zu erhalten, ist, man spricht solche Strophen dem Dichter ab und<br />

erklärt sie zur Einfügung eines Schreibers (denn deutsche Dichter haben nie unanständige Strophen geschrieben,<br />

nur deutsche Nachahmer). Daß Vaganten an beliebte Lieder erotische Zusatzstrophen anhängten, ist nicht ungewöhnlich,<br />

und die bekannte Überlieferungssituation – erhaltene Handschrift 150 Jahre jünger als der Autor – gibt<br />

uns prinzipiell das Recht, die Echtheit einer Strophe in Zweifel zu ziehen. Doch ‚beweisen‘ kann man die Unechtheit<br />

der Strophe MF 8,9 nicht, und schon gar nicht nur mit dem Argument, daß sie unanständig ist. Schon eher<br />

damit, daß sie das Lied jô stuont ich nehtint spâte ... herbeizitiert, ohne direkt in seinen Kontext zu gehören, und<br />

eine komisch-entlarvende Deutung für die Flucht des Ritters gibt: Angst vor der Frau, nicht Freiheitsdrang. Damit<br />

ist sie als Parodie des ‚Zinnenliedes‘ zu verstehen, und daß die Parodie vom selben Autor ist wie das parodierte<br />

Lied, ist wohl sehr unwahrscheinlich. Das Argument der Unanständigkeit brauchen wir aber nicht. Dass mit<br />

einem Zitat aus der ersten Strophe des Zinnenliedes der Ritter der zweiten Strophe karikiert wird (mißverstanden<br />

von BLANK), zeigt, dass die beiden Strophen des Zinnenliedes tatsächlich zusammengehören, obwohl sie in der<br />

Handschrift getrennt stehen.<br />

Die Haltung von Mann und Frau zu einander ist zwar in den anonymen Strophen und beim Kürenberger ähnlich,<br />

doch ist sie beim Kürenberger problematisiert und nicht mehr so naiv für gegeben genommen wie in den anonymen<br />

Tanzliedchen.

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