Literaturgeschichte 750-1500
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vollbringen die Leistungen, auf die es ankommt. Wenn man genau hinsieht, merkt man, dass zwischen Wolframs<br />
genauer Diagnose mittelalterlicher Gesellschaftszustände und der modernen Sozialutopie, die wir uns vielleicht als<br />
Konsequenz daraus von ihm wünschen würden, ein unüberbrückbarer Graben liegt.<br />
Held des Abends ist jedoch zweifellos Gahmuret (79,21):<br />
Sie worhten mit ir henden<br />
Sie rodeten mit ihren Händen (‚bewirkten mit ihren Händen‘)<br />
daz den walt begunde swenden. einen Wald (‚[etwas,] das den Wald zu swenden ‚roden‘ begann‘). 68<br />
Diz was gelîche ir beider ger:<br />
Beide hatten den gleichen Wunsch (‚Begehren‘):<br />
„sperâ, hêrre, spêra sper.“<br />
„Spee-eere, Herr, Spee-eere, Speere her!“<br />
Doch muose et dulden Lähelîn<br />
Doch mußte Lähelin<br />
einen smæhlîchen pîn.<br />
schmerzliche Schande (‚schändlichen Schmerz‘) dulden:<br />
In stach der künec von Zazamanc<br />
der König von Zazamanc stach ihn<br />
hinders ors, wol speres lanc,<br />
hinters Roß, wohl eine komplette Speerlänge,<br />
daz in ein rôr geschiftet was.<br />
und zwar von einem Bambusspeer inklusive Speereisen.<br />
Sîne sicherheit er an sich las.<br />
Gahmuret las Lähelins Kapitulation auf.<br />
Doch læse ich samfter süeze birn,<br />
Ich würde lieber süße Birnen auflesen,<br />
swie die ritter vor im nider rirn.<br />
so wie die Ritter vor ihm herunterpurzelten.<br />
worhten ‚wirkten‘ (zu würken); swenden ‚zum Schwinden bringen‘ (eine Rodungsmethode), Kausativ zu swinden ‚schwinden‘<br />
(wie setzen zu sitzen); begunde Präteritum zu beginnen; ger ‚Begehren‘; rôr ‚Rohr‘; schiften = scheften ‚mit einem Schaft versehen‘;<br />
sicherheit der Eid des Besiegten, dem Sieger Sicherheit zu geben, das heißt nicht mehr weiter gegen ihn zu kämpfen,<br />
damit er am Leben gelassen wird; lesen ‚auflesen, aufheben‘; samfte ‚angenehm‘; rîsen - reis - rirn - gerirn ‚fallen‘.<br />
Hier ist eine ganze Menge persifliert: betrachten Sie die Scheingenauigkeit der Angabe, wie weit Lähelin hinters<br />
Pferd fiel: nicht nur eine Speerlänge lang, sondern die Länge eines Speeres inklusive Speereisen. Nun sind nicht<br />
alle Speere gleich lang, also macht er genauere Angaben: so lang wie ein Speer aus Rohr (also Bambus) – wissen<br />
Sie jetzt, wie lang der Speer war? Der Eid wird durch Handschlag geleistet. Da der Besiegte noch am Boden liegt<br />
und erst aufstehen darf, wenn er den Eid geleistet hat, muss Gahmuret sich also andauernd bücken, um die<br />
Kapitulationen anzunehmen, als würde er Fallobst einsammeln (diese Tätigkeit scheint ihm für Wolfram anstrengender<br />
zu sein als der Kampf selbst). Wolfram distanziert sich hier vom Turnierwesen, wenn ihm das Auflesen<br />
von Birnen weniger anstrengend wäre als das Auflesen von Kapitulationen. Aber er distanziert sich nicht vom Rittertum,<br />
dem er sich zugehörig fühlt (115,11):<br />
Schildes ambet ist mîn art:<br />
Mein Stand ist das Ritteramt.<br />
swâ mîn ellen sî gespart,<br />
Wenn ich meine Kraft sparen kann,<br />
swelhiu mich minnet umbe sanc,<br />
und mich eine wegen meiner Dichtkunst liebte,<br />
sô dunket mich ir witze kranc.<br />
so würde ich sie für schwachsinnig halten.<br />
Ob ich guotes wîbes minne ger,<br />
Wenn ich um die Minne einer würdigen Frau werbe,<br />
mag ich mit schilde und mit sper<br />
und ich nicht mit Schild und Speer<br />
verdienen niht ir minne solt,<br />
ihren Minnelohn verdienen kann,<br />
al dar nâch sî sie mir holt.<br />
so sei sie mir dafür wenigstens gewogen.<br />
Vil hôhes topels er doch spilt,<br />
Wer als Ritter nach Minne strebt,<br />
der an ritterschaft nâch minnen zilt.<br />
setzt doch einen hohen Einsatz bei diesem Spiel.<br />
ambet ‚Amt‘; art ‚Stand, Geburtsstand, Berufsstand‘; swâ ‚dort wo‘; ellen ‚körperliche Kraft‘; swelhiu ‚welche auch immer‘;<br />
dunken ‚dünken‘; witze ‚Verstand‘; kranc ‚schwach‘; gern ‚begehren‘; mac ‚kann‘; solt ‚Sold, Lohn‘; holt ‚hold, freundlich<br />
gesinnt‘; topel ‚Einsatz‘ (beim Glücksspiel).<br />
Hier steht ‚Schild-Amt‘ für ‚Rittertum‘; als Symbol für die Ritterschaft der Schild. Wolfram meint damit wohl die<br />
Schutzfunktion des Rittertums für die Nichtbewaffneten (Frauen, Kinder, Priester). Diese gibt ihm Sinn. Das<br />
Pferd ist das Standes- und Ehrenzeichen. Dass die ritterliche Tätigkeit in der Praxis sinnentleert ist, merken wir<br />
nicht nur bei Wolfram; schon Hartmann hat im Erek und noch deutlicher im Iwein die Ehre, die ein Ritter erwirbt,<br />
wenn er auf Turniere auszieht und dort Siege erringt, als etwas gebrandmarkt, das den Ritter von seinen eigentlichen<br />
Zielen ableitet. Iwein versäumt um nichtiger Turniersiege willen die Frist, die ihm seine Frau gesetzt hat; er<br />
lernt erst auf einem mühevollen Weg, dass es nicht Aufgabe des Ritters ist, irgendeinen Kampf zu bestehen, sondern<br />
sinnvolle Kämpfe, das heißt, Schutzlosen beizustehen, wenn sie im Recht sind und einen Kämpfer brauchen.<br />
Der ach so vorbildliche Artushof, einschließlich Gawan, des klugen Neffen von Artus, ist noch nicht zu dieser<br />
Einsicht gekommen.<br />
#<br />
Auf nach Wildenberg<br />
Die Wolframs ‚Parzival‘ kennen, behaupten großteils, er sei das bedeutendste Werk des Mittelalters in deutscher<br />
Sprache. Die ihn nicht kennen, wiederholen diesen Satz teils mit Ehrfurcht, teils mit Furcht; vor allem wenn sie<br />
aufgefordert werden, sich selbst damit auseinanderzusetzen. Wie Zugang finden zu einem Werk, das einem<br />
zunächst als Wust von Worten erscheint?<br />
85<br />
68 Sie brachten so viele Speere zum Zersplittern, dass es einem Waldmord gleichkam.