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Literaturgeschichte 750-1500

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lege, weil er ungerecht verleumdet worden sei. Sie schlug ihm die Bitte ab, denn sie wisse wohl, dass er sich nichts habe zu<br />

Schulden kommen lassen, aber es würde nur noch verdächtiger wirken, wenn sie für ihn spräche. Sie habe ihm zwar immer<br />

Zeichen der Sympathie geschenkt, weil er der Lieblingsneffe ihres edlen Gemahls sei, doch hätten das die andern falsch ausgelegt.<br />

Keinesfalls dürfe er auf sie zählen. Beide versicherten einander, wie ferne es ihnen läge, den edlen Marke zu betrügen,<br />

doch was Tristrants Anliegen betraf, für ihn zu bitten, blieb Isalde hart. Dann trennten sich die beiden. Am nächsten Tag begab<br />

Marke sich zu Isalde und fragte sie nach Tristrant. Sie gab an, ihn lange nicht mehr gesehen zu haben. Da gestand ihr der König,<br />

dass er beide belauscht hätte und jetzt von ihrer Unschuld überzeugt sei, sogar den Kuß verzieh er und entschuldigte sich noch<br />

für seinen Jähzorn. Er bat sie, Tristrant zum Bleiben zu bewegen. Listig lehnte sie ab, und Marke mußte Brangene schicken,<br />

Tristrant zum Bleiben zu bitten. Marke gestattete Tristrant sogar, immer um Isalde zu sein, und in der königlichen Kemenate zu<br />

schlafen. Fortan hatte Tristrant sein Vergnügen mit der Königin, sooft er es wünschte.<br />

Die Mehlstreuszene:<br />

Antret gab nicht auf. Er nährte wieder den Argwohn Markes. Der gab Tristrant den Auftrag, in die Bretagne zu König Artus<br />

mit einer Botschaft zu reiten, das würde mindestens eine Woche in Anspruch nehmen. Vorher würden die Liebenden einander<br />

sicher sehen wollen, und da könnte man sie ertappen. Der Zwerg bestreute den Fußboden im Schlafzimmer mit Mehl, dann<br />

versteckte er sich unter dem Bett, und der Plan ging auf: Tristrant sah zwar das Mehl, wollte aber trotzdem nicht auf das Beisammensein<br />

mit Isalde verzichten, sondern setzte mit einem Sprung über das Mehl hinweg und landete so im Bett der Königin.<br />

Da brach seine Wunde auf und befleckte das königliche Bett mit Blut. Als nun der Zwerg den König und die Verräter herbeirief,<br />

die draußen gewartet hatten, konnte Tristan nicht flüchten, ohne eine Fußspur im Mehl zu hinterlassen, außerdem machte das<br />

blutbesudelte Bett ein Leugnen unmöglich. Dass der Zwerg die Wahrheit gesagt hatte, war erwiesen. Tristrant wurde überwältigt<br />

und gefesselt. Das Gericht wurde einberufen, und der König wollte Tristrants und Isaldes Tod verlangen.<br />

Die Flucht:<br />

(4098ff.): Unterwegs zum Gerichtsplatz kamen sie an einer Kapelle am Meeresstrand vorbei. Tristrant bat seine Wächter, noch<br />

einmal allein beten zu dürfen. Sie erlaubten es ihm, und warteten vor der Tür. Die Kapelle hatte nur ein Fenster, und das ging<br />

direkt auf die Steilküste hinunter. Tristrant versperrte von innen die Tür und stürzte sich todesmutig aus dem Fenster in die<br />

Wogen. Bis die Bewacher merkten, dass er nicht herauskam, und die Tür erbrachen, war er schon weit weg. Isalde sollte nun zu<br />

einem gräßlichen Tod verdammt werden: In der Nähe gab es eine Kolonie aussätziger Männer (durch die Kreuzzüge war dieses<br />

Übel in Europa eingeschleppt worden; die Kranken mußten außerhalb der Gesellschaft in eigenen Siedlungen vegetieren). Die<br />

Aussätzigen hatten alle schon lange keine Frau mehr besessen. Ihrer sexuellen Gier sollte sie überantwortet werden, einer nach<br />

dem anderen sollte dann, der Reihe nach, sie vergewaltigen, bis sie das Leben aushauchte (das Mittelalter liebte Symbolstrafen,<br />

d. h. die Strafe sollte im Symbolzusammenhang mit der Tat stehen). Isalde wurde dem Anführer der Aussätzigen überantwortet,<br />

der mit ihr in die Leprakolonie ritt. Tristrant hatte inzwischen Kurneval gefunden, sie fielen mit ihren Schwertern über die<br />

Aussätzigen her und machten alle nieder, nur einer entkam und meldete es dem König. 89 Tristrant und Isalde flohen mit Kurneval<br />

in einen tiefen Wald. Tristrants treuer Jagdhund, der Bracke Utan, sollte auf Markes Befehl umgebracht werden, wurde<br />

aber von einem Knappen freigelassen, fand die Spur Tristrants und half ihm hinfort bei der Jagd. Das Waldleben war für<br />

Tristrant, Isalde, Kurneval, ihre Rosse und den Hund entbehrungsreich. Es gab zwar Wildpret, und Tristrant lernte an einem<br />

Bach Fischen – er soll der Erfinder der Angel gewesen sein 90 –, aber sonst gab es nur wilde Kräuter, und sie hatten keine Kleidung<br />

für den Winter und nur eine Hütte aus Ästen und Laubwerk. Sie waren dem Erfrieren nahe. Mehr als zwei Jahre lang<br />

litten sie so in der Wildnis den größten Mangel, aber ihre große Liebe brachte ihnen auch großes Glück. Nur Kurneval fehlte<br />

auch dieses, und er hätte fast den Tod gefunden. Mit der Zeit nahm Tristrant den Brauch an, dass er sein Schwert zwischen sich<br />

und Isalde legte, wahrend sie schliefen. Dieser merkwürdige Brauch rettete ihr Leben: eines Tages entdeckte der Jägermeister<br />

des Königs die Hütte und meldete es seinem Herrn. Marke eilte herbei, doch als er sah, dass das Schwert zwischen beiden lag,<br />

nahm er es an sich, zog sein eigenes Schwert aus der Scheide und legte es an Stelle von Tristrants Schwert zwischen die Schlafenden.<br />

Dann legte er seinen Handschuh auf Isalde und ritt wieder fort. 91 Als die Liebenden erwachten, erkannten sie an Markes<br />

Handschuh und Schwert, dass sie verraten waren. Angst ergriff sie, obwohl sie den Großmut des Königs daran erkannt hatten,<br />

dass er sie nicht getötet hatte. Sie verließen ihre Hütte und suchten einen Einsiedler auf, Ugrim, dem Tristrant die Beichte<br />

ablegte. Der Einsiedler verweigerte ihm aber die Absolution, solange er nicht auf die Königin verzichte. Er beschwor ihn bei<br />

Gottes Liebe, er solle sie zurückgeben, denn nur dann könne ihm seine ungeheure Sünde vergeben werden. Doch Tristrant ritt<br />

fort, ohne Absolution erhalten zu haben. Er konnte ohne Isalde nicht leben, zu groß war die Gewalt der Liebe, und so blieb er so<br />

lange mit ihr im Walde, bis die Wirkung des Trankes nachließ. Vier Jahre nach Einnahme des Trankes schien es ihnen allmählich<br />

möglich, voneinander Abschied zu nehmen. Die Entbehrungen im Wald schienen ihnen unerträglich. Da gingen sie<br />

wieder zu Ugrim, der dem König im Namen Gottes gebot, Isalde wieder anzunehmen und Tristrant zu verzeihen. Marke nahm<br />

Isalde auf und bewies ihr durch viele Jahre seine Liebe, wie es sich gehörte.<br />

Tristrant bei Artus:<br />

99<br />

89 Das ist die Stelle, an der wir die Gestaltung durch Berol und Eilhart vergleichen und für die Erstellung einer relativen<br />

Chronologie nützen können.<br />

90 Der Angelhaken heißt auf lateinisch hamus. Da in den romanischen Sprachen anlautendes h nicht gesprochen wird, ergibt sich<br />

ein Gleichklang mit amo. Da die Liebe eine Gewalt ausübt, durch die man gefangen und wohin gezogen wird, auch gegen seinen<br />

Willen, wie ein Fisch, der an der Angel zappelt, ist der Vergleich ganz in dem Sinn, wie das Mittelalter Etymologien liebte. Da<br />

ist es dann nur konsequent, wenn man den ‚Minneheiligen’ Tristan zum Erfinder des Angelhakens macht, und das Waldleben<br />

bietet die beste Gelegenheit dazu.<br />

91 Die Handlung Markes ist als Rechtshandlung zu verstehen; sie demonstriert seinen Besitzanspruch auf Isalde. Weniger klar ist<br />

die Motivation von Tristrants Gewohnheit, das Schwert zwischen sich und Isalde zu legen. Bei Berol ist es eine List, weil Tristan<br />

gemerkt hat, dass sein Versteck verraten wurde. Eilhart nennt es aber einen „wunderlichen Einfall“ Tristrants. Heißt das,<br />

dass er einer Quelle sklavisch folgte, ohne ihre Argumentation zu verstehen, oder wollte er auf ein äußerlich schwer verständliches,<br />

aber doch der Deutung zugängliches Phänomen verweisen? Vielleicht ist gerade Berols einleuchtende Deutung als List<br />

sekundär? Ist es unbewußte Angst um Entdeckung im Schlaf, oder schlechtes Gewissen? Steht die Entdeckung durch Marke mit<br />

einer Abnahme der Liebe in Zusammenhang?

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