Literaturgeschichte 750-1500
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WOLFRAM VON ESCHENBACH, LIEDER, PARZIVAL, ‚TITUREL‘,<br />
WILLEHALM<br />
Aufgaben: Welches ist das neueste Buch von Joachim BUMKE zu Wolfram? In wievielter Auflage ist sein Metzler-<br />
Bändchen zu Wolfram schon erschienen? Blättern Sie es einmal durch!<br />
Minne ist im Artusroman nur bedingt eine treibende Kraft: die Abenteuerkette des Ritters, der von der Tafelrunde<br />
auszieht, um zu ihr nach vollendeter Tat zurückzukehren und vom Hof die Sanktion seines Tuns zu erhalten,<br />
ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Quête, eine Suche seiner selbst, nicht nur als Individuum, sondern<br />
als Glied der auf ein sittliches Ideal ausgerichteten Gesellschaft, als Persönlichkeit. Minne ist zwar eines der<br />
wichtigsten Probleme, mit dem sich der einzelne „auf der Suche seiner selbst“ im Rahmen der ritterlichen Gesellschaft<br />
auseinanderzusetzen hat, doch kommt ihr nicht der zentrale Platz im Artusroman zu, den man ihr früher<br />
eingeräumt hat. 63 Innovativ ist der deutsche Artusroman, wie er sich nach dem Vorbild von Hartmanns Erek und<br />
Iwein entwickelt hat, in Sachen Minne nicht. Wo die Epiker nach neuen Lösungen suchten, war es abseits des Artushofes.<br />
Wolframs Romane sind Legendenromane, in denen der Artushof nur peripher (im Parzival) bzw. gar<br />
nicht (im Willehalm) erscheint. Vollendet hat Wolfram von sein Romanen nur den Parzival; der Willehalm ist unvollendet,<br />
und vom ‚Titurel‘ (so der übliche, aber unzutreffende Titel) hat er nicht mehr als zwei kurze Fragmente<br />
geschrieben; er experimentierte hier mit einer Strophenform, die er anscheinend selbst als für die Großepik ungeeignet<br />
erkannte. Parzival und Willehalm sind, wie fast die gesamte höfische Epik, in Reimpaarversen verfaßt.<br />
WOLFRAMS LIEDER<br />
Bei Wolfram treten verschiedene Formen der Liebe auf, sowohl in seiner Lyrik, als auch in seiner Epik. Ihre<br />
Bewertung durch den Dichter ist nicht immer ganz klar, und am wenigsten dann, wenn er sich einmal ganz gegen<br />
seine Gewohnheit eindeutig auszudrücken scheint.<br />
Die Lieder, die uns von ihm erhalten sind, gehören großteils zur Gattung des Tageliedes; der Abschied der<br />
Liebenden wird als unerträglich empfunden. Doch wie anders sind Wolframs Tagelieder als das Heinrichs von<br />
Morungen! Von einer inneren Distanz der Liebenden ist da nichts zu merken. Auch wenn Wolfram eine noch<br />
unerwiderte Liebe beschreibt, mit einem „klassischen“ Natureingang (L 7,11 64 ; das Lied ist kein Tagelied), macht<br />
uns der Liebende nicht einen so schüchternen Eindruck, dass wir ihm unbedingt Mißlingen prophezeihen würden:<br />
Ursprinc bluomen, loub ûzdringen<br />
und der luft des meigen urbort vogel ir alten dôn.<br />
Eteswenne ich kan niuwez singen,<br />
sô der rîfe liget, guot wîp, noch allez ân dîn lôn.<br />
Die waltsinger und ir sanc<br />
nâch halbem sumers teile in niemannes ôre enklanc.<br />
meige ‚Mai‘. urborn zu urbor ‚Zins, Ertrag‘. - eteswenne ‚bisweilen; manchmal‘.<br />
Hervorbrechen der Blumen, Ausschlagen der Blattknospen (‚Laub Herausdringen‘) und Maienluft bringt (urborn zu urbor ‚Zins,<br />
Ertrag‘) die alten Lieder der Vögel (‚der Vögel ihre alten Lieder‘ – heute noch mundartliche Possessivkonstruktion). Ich kann<br />
manchmal auch etwas Neues singen, gute Frau, wenn der Reif liegt, aber alles nicht ohne deinen Lohn. Die Waldsänger und ihr<br />
Gesang hat dagegen nach der Mitte des Sommers in niemandes Ohr mehr geklungen.<br />
Der bliclîchen bluomen glesten –<br />
sô des touwes anehanc – erliuternt, swâ si sint.<br />
Vogel die hellen und die besten,<br />
al des meigen zît si wegent mit gesange ir kint.<br />
Dô slief niht diu nahtegal.<br />
Nû wache aber ich und singe ûf berge und in dem tal.<br />
blic ‚Glanz‘. - erliutern ‚erhellen‘. - meige ‚Mai‘. - swâ si sint ‚überall, wo sie sind‘.<br />
Das Glänzen der leuchtenden Blumen – wie der Tau, der an ihnen hängt – erhellt ihre Umgebung. Die Vögel mit den schönsten<br />
hellen Stimmen wiegen den ganzen Mai ihre Kinder mit Gesang. Da schlief die Nachtigall nicht. Nun aber wache ich und singe<br />
auf dem Berg und im Tal.<br />
Mîn sanc wil genâde suochen<br />
an dich, güetlîch wîp: nu hilf, sît helfe ist worden nôt.<br />
Dîn lôn dienstes sol geruochen,<br />
daz ich iemer bitte und biute unz an mînen tôt.<br />
63 Nach Bezzola bzw. Moelleken.<br />
64 L = Lachmann. Wolframs Lieder werden üblicherweise nach der Seiten- und Zeilenzahl der Ausgabe von Karl Lachmann<br />
zitiert. Im Parzival erfolgt die Zählung nach Gruppen von je 30 Versen, den sogenannten „Dreißigern“: möglicherweise waren<br />
die Pergamentblätter, auf die Wolfram diktierte, also das Original, mit je 30 Zeilen liniert. Pa 532,1 heißt also: 532. Dreißiger, 1.<br />
Zeile. Die sogenannte „Bucheinteilung“ des Parzival (in 16 Bücher) hat dagegen nur zum Teil eine Stütze in der mittelalterlichen<br />
Überlieferung; sie wurde von Lachmann nach Lesegewohnheiten des 19. Jahrhunderts getroffen.