25.12.2013 Aufrufe

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

76<br />

anstreben. Die Emanzipation der schriftlichen Dichtung von der geistlichen Literatur ist also teilweise rückgängig<br />

gemacht.<br />

2. Einordnung und Wertung<br />

Hartmanns mittelhochdeutsche Bearbeitung des Erec wird unterschiedlich eingeschätzt. Die Urteile reichen von<br />

‚kongenial mit Chrestien‘ bis ‚recht brave Übertragung‘. Die Eigenständigkeit der Übersetzung ist dabei eine<br />

Selbstverständlichkeit; im Mittelalter übersetzte man prinzipiell nicht wörtlich. Wenn wir Hartmanns Werk mit der<br />

kymrischen und der altnordischen Übersetzung vergleichen, merken wir, wie hoch er über den beiden anderen<br />

Übersetzern steht. Es ist gar nicht so leicht, ein Werk zu übersetzen und gleichzeitig für einen Leserkreis mit anderen<br />

Wertmaßstäben zu adaptieren, ohne daß wesentliche Vorzüge des Originals verlorengehen. Ob Hartmanns<br />

Leistung aber von den Zeitgenossen entsprechend gewürdigt wurde, wissen wir nicht. Der Erec ist uns in einer<br />

einzigen Handschrift fast ganz erhalten, im Ambraser Heldenbuch, das Kaiser Maximilian um <strong>1500</strong> schreiben<br />

ließ. Damals schon scheint kein komplettes Exemplar des Erec mehr aufzutreiben gewesen sein, denn es fehlt am<br />

Anfang ungefähr so viel Text, wie auf einem Blatt gestanden sein kann (der Prolog und die ersten Verse der Handlung);<br />

der Schreiber des Ambraser Heldenbuches begann den Erec mitten in einem Satz: bî ir und bî ir wîben ‚bei<br />

ihr und bei ihren Frauen (Hofdamen)‘; da wir Chrestiens Text ja haben, wissen wir, daß es sich darum handelt, daß<br />

Erec die Königin und ihre Hofdamen auf dem Weg zur Hirschjagd trifft, auf die Hartmann sich später bezieht, die<br />

also auch bei ihm am Anfang gestanden haben muß. Die Vorlage für das Ambraser Heldenbuch scheint eine gute<br />

alte Handschrift gewesen zu sein, der nur leider das erste Blatt fehlte. Sonst aber haben wir nur kleine Fragmente<br />

von weiteren Handschriften. Eine davon gibt uns besondere Rätsel auf: Von ihr existieren mehrere kleine Stückchen;<br />

einige von Stellen, an der sich Hartmann ziemlich genau an Chrestien gehalten hat, und hier hat sie den<br />

Hartmann-Text. Zwei Stückchen derselben Handschrift bieten aber Stellen, an denen Hartmann stark ändert. Und<br />

dort haben die Fragmente nicht den Hartmann-Text, sondern eine Fassung, die näher an Chrestien liegt. Man hat<br />

überlegt, ob es sich um einen ersten Versuch Hartmanns oder um eine von ihm unabhängige Übersetzung handeln<br />

könnte; die meisten scheinen heute der Meinung zuzuneigen, daß ein Schreiber, der Chrestiens Erec kannte<br />

und Hartmanns Erec abschrieb, einzelne Szenen neu übersetzte und in den Hartmann-Text einschob, weil er die<br />

Übersetzung näher am Original haben wollte und nicht goutierte, daß Hartmann dem Werk einen von Chrestien<br />

völlig abweichenden Sinn gab. Die ‚Zwettler Erek-Bruchstücke‘, die eine fast wörtliche Übersetzung einiger (leider<br />

nur weniger) Verse von Chrestiens Erec ins Mittelhochdeutsche enthalten, und zwar an einer Stelle, an der Hartmann<br />

stark von Chrestien abweicht, sind zu kurz, um ein eindeutiges Szenario der Erek-Übersetzungen zu liefern.<br />

Daß der Erek des Ambraser Heldenbuchs wirklich der Hartmanns ist und nicht eines anderen, wissen wir aus Vers<br />

7493: dort nennt sich Hartmann selbst. Auch daß er Chrestien als Quelle benutzt hat, sagt er: in Vers 4631.<br />

Wenn wir bedenken, dass wir (einschließlich der Bruchstücke) vom Iwein immerhin etwa 30, von Wolframs<br />

Parzival gar etwa 80 Handschriften besitzen, so ist der Erec im Vergleich zu den anderen Spitzenwerken der höfischen<br />

Blütezeit dürftig überliefert. Doch die erhaltenen Handschriften der anderen genannten Werke (Iwein, Parzival)<br />

sind fast alle viel jünger als die Originale. Sie können uns daher nur etwas über die Beliebtheit dieser Werke<br />

bei der Nachwelt, nicht bei der Mitwelt sagen, und zwar: wenn jemand im Spätmittelalter die hohen Kosten auf<br />

sich nahm, die die Bestellung einer Handschrift eines hochmittelalterlichen Romans mit sich brachte, wählte er<br />

meist Wolframs Parzival; wenn er auch einen Roman Hartmanns besitzen wollte, den Iwein. Aus der Zeit vor 1200<br />

sind kaum Handschriften mit deutscher weltlicher Dichtung erhalten. Das heißt, wir müssen zugeben, dass wir nicht<br />

wissen, ob die Zeitgenossen Hartmanns Erec geschätzt haben oder nicht. Von Gottfried von Straßburg besitzen wir<br />

zwar ein sehr großes Lob Hartmanns: Gottfried spricht ihm für seine klare Ausdrucksweise, bei der die kristallenen,<br />

durchsichtigen Worte den Blick auf den inneren Sinn freigeben, den Kranz und Lorbeerzweig zu, der dem besten<br />

Epiker gebühren soll; nicht Wolfram von Eschenbach, dessen dunkle Sprache Gottfried verabscheut. Doch dass<br />

Wolfram und Gottfried Hartmanns Werke gekannt haben, ist ohnehin selbstverständlich. Wie viele ihrer Zeitgenossen,<br />

die nicht Dichterkollegen waren, Gottfrieds Hochachtung für Hartmann geteilt haben, bleibt offen. Und: hat die<br />

anscheinend von jemand anderem erfolgte Bearbeitung des einen Fragments diesbezüglich etwas zu sagen? Wir<br />

wissen es nicht.<br />

Nun, für eine soziologische Interpretation des Werkes wäre es nicht unbedingt notwendig, zu wissen, ob die<br />

Zielgruppe des Publikums das Identifikationsangebot, das ihr Hartmann lieferte, tatsächlich annahm. Das ist Sache<br />

der Rezeptionsforschung. Es wäre für uns schon genug, wenn wir wüßten, ob Hartmann die Abweichungen<br />

gegenüber Chrestien in Hinblick auf sein Publikum vorgenommen hat, also in der Absicht seinem Publikum zu<br />

gefallen oder nur nach seiner eigenen Weltsicht; und wenn das Publikum die Ursache dafür gewesen sein soll, wer<br />

dieses Publikum gewesen sein könnte. Das einzige, was uns diesbezüglich Information geben könnte, wäre der vom<br />

Dichter verfaßte Prolog. Doch gerade der fehlt uns ja. Den Aufbruch zur Hirschjagd können wir uns leicht nach<br />

Chrestien ergänzen. Doch dass der Prolog fehlt, ist schlimm. Schlimm deshalb, weil die derzeit aktuellste Forschungsrichtung<br />

im Anschluß an KÖHLER gerade Bezüge zwischen dem Autor und der Gesellschaft, für die er<br />

schrieb, also dem Publikum, erhellen will. Für so ein Forschungsvorhaben muss daher ein Werk wie Hartmanns<br />

Erec höchst ungeeignet sein, ein Werk, von dem wir weder wissen, welche Intention der Autor im Prolog bekanntgab,<br />

noch wie die Sache gefiel, noch wer etwa sein Gönner gewesen sein könnte, ja ob er überhaupt für einen solchen<br />

schrieb. Es besteht ein gewisser Verdacht, dass eine gewisse Phantasielosigkeit bei der Übertragung der

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!