Literaturgeschichte 750-1500
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Bauerntölpel. Neidharts ‚Sommerlieder‘ stehen gattungsstrukturell dazwischen: das Dorfmädchen ist geil nach dem<br />
(Ritter) von Reuental. Da die früheste Bezeugung Neidharts, in Wolframs ‚Willehalm‘ um 1215, auf Winterlieder<br />
Bezug nimmt (s. u. S. 45), muss diese gattungsstrukturelle Gliederung der Lieder Neidharts nicht einer chronologischen<br />
entsprechen. Am Wiener Hof scheint Neidhart mit seiner Persiflage des Rittertums unter Leopold kein Glück<br />
gehabt zu haben; seine persönlichen Dankbezeigungen betreffen alle erst dessen Nachfolger, Herzog Friedrich II.<br />
(1230 - 1246). Leopold scheint einen konservativen Geschmack besessen und den jeweils konservativeren Poeten,<br />
erst Reinmar gegen Walther, dann Walther gegen Neidhart, begünstigt zu haben. Walther erwähnt Neidharts Namen<br />
nie, doch ist er wohl im folgenden Spruch angegriffen (L 31,33):<br />
In nomine domini ich wil beginnen: sprechet âmen<br />
(daz ist guot für ungelücke und für des tievels sâmen),<br />
daz ich gesingen müeze in dirre wîse alsô,<br />
swer höveschen sanc und freude stœre, daz der werde unfrô.<br />
Ich hân wol und hovelîchen her gesungen:<br />
mit der hövescheit bin ich nû verdrungen,<br />
daz die unhöveschen nû ze hove genæmer sint dann ich.<br />
Daz mich êren solte, daz unêret mich.<br />
Herzoge ûz Ôsterrîche, fürste, nû sprich:<br />
dû enwendest michs alleine, sô verkêre ich mîne zungen.<br />
her hier temporal: ‚bis jetzt‘; genæme ‚angenehm (was gerne genommen wird); angesehen‘.<br />
In nomine domini beginne ich nun. Sprecht ihr ‚amen‘ dazu (das ist gut gegen Unglück und gegen die Saat des Teufels), dass ich<br />
in einer solchen Weise singen soll, dass alle die, die den höfischen Sang und die Freude stören, ihre Freude verlieren sollen. Ich<br />
habe bislang schön und höfisch gesungen. Zugleich mit der höfischen Art hat man aber nun auch mich verdrängt, so dass jetzt<br />
die Unhöfischen bei Hof angesehener sind als ich. Was mich ehren sollte, das entehrt mich. Herzog aus Österreich, Fürst, sprich:<br />
wenn nicht du allein es von mir abwendest, so ändere ich meinen Stil.<br />
Wer anderer als Neidhart kann der Sänger gewesen sein, der bei Hof angesehener war als Walther, aber unhöfische<br />
Töne anschlug? Im nächsten, noch schärferen Spruch, der ebenfalls im ‚Unmutston‘ verfasst ist, wird ein<br />
Name genannt, Stolle, der aber sicher fingiert ist (L 32,7):<br />
Nû wil ich mich des scharpfen sanges ouch genieten:<br />
dâ ich ie mit vorchten bat, dâ wil ich nû gebieten.<br />
Ich sihe wol daz man herren guot und wîbes gruoz<br />
gewalteclîch und ungezogenlîch erwerben muoz.<br />
Singe ich mînen höveschen sanc, sô klagent siz Stollen.<br />
Dêswâr ich gewinne ouch lîhte knollen:<br />
sît si die schalkheit wellen, ich gemache in vollen kragen.<br />
Ze Ôsterrîch lernt ich singen unde sagen:<br />
dâ wil ich mich alrêrst beklagen:<br />
vinde ich an Liupolt höveschen trôst, sô ist mir mîn muot entswollen.<br />
genieten ‚sich einer Sache befleißigen‘.<br />
Nun will ich auch die aggressive Singweise annehmen und dort, wo ich früher ängstlich bat, befehlerisch auftreten. Ich sehe<br />
wohl, dass man das Honorar der Herren und den Gruß der Frauen mit Gewalt und ungezogen erwerben muss. Wenn ich meinen<br />
höfischen Sang singe, so beklagen sie sich bei Stolle. Fürwahr, ich kriege vielleicht auch noch einmal Knollen 27 . Wenn sie die<br />
Bosheit wollen, so stopfe ich ihnen den Kragen damit. In Österreich habe ich Singen und Sagen gelernt, also will ich mich dort<br />
zuerst beklagen: wenn ich bei Leopold höfischen Trost finde, dann schwillt mein Zorn ab.<br />
Auf der Suche nach Stolle hilft am ehesten das Wort klagen. Der Lyriker, der sich bei seinen Freunden über<br />
das beklagt, was ihm angetan wird, kann nur Neidhart von Reuental sein (Reinmar klagt anders). Ein typisches<br />
‚Winterlied‘ Neidharts (Nr. 20):<br />
Owê dirre sumerzît,<br />
owê bluomen unde klê,<br />
owê maneger wünne, der wir âne müezen sîn!<br />
Unser freuden widerstrît<br />
bringet rîfen unde snê:<br />
27 Was diese ‚Knollen‘ sein sollen, ob ein vor Zorn geschwollener Kopf oder Knödel oder eine Anspielung auf ein verlorenes<br />
Gedicht des Gegners, ist unklar. Die obszönste Deutung, eine Anspielung auf das ‚Neidhartveilchen‘, läßt sich nicht wahrscheinlich<br />
machen, weil dieser Schwank erst viel später belegt ist: zu den Schwänken, die sich im Laufe der Zeit um Neidhart<br />
von Reuental gerankt haben, gehört auch der, dass Neidhart das erste Veilchen des Frühlings gefunden hatte, und seinen Hut<br />
drüber stülpte, und an den Hof lief, die Herzogin zu verständigen. Inzwischen brach ein boshafter Bauer das Veilchen und verrichtete<br />
seine Notdurft unter den Hut. Versuche, diese Strophe ganz anders zu lesen und nicht auf eine literarische Fehde zu<br />
beziehen, sondern auf Walthers Feindschaft mit der Hofgesellschaft in Kärnten (in St. Veit an der Glan), sind aber nicht ernst zu<br />
nehmen. Walther wird sich doch nicht bei Leopold in Wien beklagen, dass er von Bernhard von Kärnten keine neuen Kleider<br />
erhalten hatte!