25.12.2013 Aufrufe

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

96<br />

von werltlichin synnen,<br />

über einen weltlichen Stoff (‚von weltlichen Sinnen‘):<br />

von manheit und von minnen<br />

über Heldentaten und über die Liebe.<br />

(54ff.) König Marke von Cornwall wurde von Feinden überfallen; viele Nachbarländer kamen ihm zu Hilfe. Auch König Riwalin<br />

von Lohnois, der Marke weiterhin diente, als wäre er sein Lehensmann, aber nur, weil er Markes Schwester Blancheflur<br />

zur Frau haben wollte. Sie gab sich ihm hin und floh mit ihm in sein Land, als sie schwanger geworden war. Doch noch unterwegs,<br />

auf hoher See, überfielen sie die Wehen. Sie starb bei der Geburt des Sohnes, der aus ihrer Leiche geschnitten wurde.<br />

Man gab ihm den Namen Tristrant.<br />

Jugendgeschichte:<br />

(106ff.) König Riwalin vertraute ihn dem Knappen Kurnewal zur Erziehung an. Der lehrte ihn: 76 Harfenspiel, Gesang, Sport<br />

und Spiel mit anderen Kindern (Steinwurf, Laufen, Springen, Ringen, Speerwurf), Freigebigkeit, ritterliche Kampfesweise,<br />

wohlerzogen zu sprechen, Versprechen immer zu halten, Wahrhaftigkeit. Seine Tugenden solle er stets aufs Neue bewähren,<br />

höfisch sein und klug handeln, den Damen gern und unter Einsatz seines Lebens dienen.<br />

Als Tristrant herangewachsen war, ersuchte er seinen Vater, auf ritterliche Bewährung ausziehen zu dürfen. Ein Schiff und ein<br />

kleines Gefolge, darunter Kurnewal, wurde ihm zur Verfügung gestellt, und alles prächtig ausgerüstet (Silber, Gold, Kleider).<br />

Sie fuhren nach Cornwall, wo Tristrant inkognito bleiben wollte, um seine Abkunft zu verheimlichen 77 . Er bot Marke seine<br />

Dienste an und blieb in hohen Ehren an seinem Hof bis zu seiner Schwertleite (bis zum Erhalt des Ritterschlags). Da geschah<br />

folgendes:<br />

Moroltkampf:<br />

(351ff.) Morolt, der Bruder der Gattin des irischen Königs, unterwarf viele Länder und wollte auch Cornwall tributpflichtig<br />

machen. Er stellte Marke vor die Wahl, ihm entweder in einer Schlacht entgegenzutreten oder einen Helden zu stellen, der ihn<br />

im Zweikampf besiege. Tristrant entschloß sich, den Zweikampf auf sich zu nehmen, und verlangte seinen Ritterschlag. Erst<br />

danach gab er Marke seinen Wunsch, gegen Morolt zu kämpfen, bekannt. 78 Die irischen Boten erhoben Einspruch, weil<br />

Tristrants Herkunft nicht bekannt war, und Morolt gegen keinen Unebenbürtigen kämpfen würde. Da enthüllte Tristrant vor<br />

dem ganzen Hof seine Herkunft. Der Zweikampf wurde auf einer kleinen Insel 79 ausgetragen, auf die nur Morolt und Tristrant<br />

in kleinen Booten übersetzten; das Heer stand am Festland am Ufer. Morolt verwundete Tristrant mit einem vergifteten Spieß,<br />

doch Tristrant verwundete Morolt mit dem Schwert tödlich. Dabei blieb ein Splitter von Tristrants Schwert in Morolts<br />

Wunde stecken. Die Iren versuchten, ihn noch lebend nach Hause zu bringen, damit die heilkundige Tochter des irischen Königs,<br />

Isalde, Morolts Nichte, ihren Onkel retten könne, doch als sie ihnen entgegeneilte, war der Tod schon eingetreten. Aus der<br />

Wunde zog sie den Splitter von Tristrants Schwert. Aus Schmerz über den Verlust Morolts beschlossen die Iren, jeden Bewohner<br />

von Cornwall, der an ihre Küste kam, zu töten. Tristrants Wunde begann zu eitern und gräßlich zu stinken, so dass niemand<br />

seine Nähe aushalten konnte. Da ließ er sich in ein kleines Boot legen und dem Wind anvertrauen. Sollte ihn der Wind nicht in<br />

den Tod führen, sondern retten, würde er wiederkehren. Der Wind führte ihn genau nach Irland, wo er unter falschem Namen<br />

um Heilung bat (er nannte sich Pro). Man schickte um Medizin zur Tochter des Königs, die – ohne ihn zu Gesicht zu bekommen<br />

– durch Boten die heilende Salbe schicken ließ. Zur selben Zeit brach in Irland eine Hungersnot aus, da wegen der Ausländerfeindlichkeit<br />

kein Handelsschiff mehr zu landen wagte. Der unerkannte Fremde erbot sich zu helfen, wenn man ihn auf einem<br />

Schiff nach England mitnähme (diese List verhalf ihm, von Irland fortzukommen, ohne verraten zu müssen, dass er nach Cornwall<br />

wollte). Dort verhalf er den Iren zu vorteilhaftem Einkauf von Getreide, und man hielt ihn hinfort für einen Kaufmann. Als<br />

die Iren heimfuhren, blieb er aber in England, um von dort nach Cornwall zurückzukehren.<br />

Brautwerbung:<br />

(1332ff.) Tristrant erwarb sich immer größeren Ruhm, was ihm viele Neider schuf. Besonders, dass Marke Tristrant als seinen<br />

Nachfolger sehen wollte und daher beschloß, auf eine Heirat zu verzichten und ihn an Sohnes Statt anzunehmen, verdroß seine<br />

Feinde. Also drangen sie in Marke, sich zu verheiraten. Keine seiner Ausflüchte ließen sie gelten – da zankten zwei Schwalben,<br />

die durchs Fenster hereingeflogen waren, um ein langes blondes Frauenhaar. Dass es das Haar einer Adeligen sein müßte, war<br />

offensichtlich, 80 und Marke sprach, er werde keine Frau heiraten, außer die, von der dieses Haar stamme – aber nur, um sich der<br />

Forderung seiner Vasallen entziehen zu können. Er wollte keinesfalls eine Frau nehmen. Wieder erzürnten die Fürsten, da sie<br />

erkannt hatten, dass der König sie zum Narren hielt. Um Frieden zu stiften, erbot sich Tristrant, nach dieser Frau zu suchen.<br />

Man gab ihm das Haar mit und rüstete ein Schiff mit 100 Rittern prächtig aus, als er mit unbekanntem Ziel auf Werbungsfahrt<br />

zog. 81<br />

Wieder vertraute sich Tristrant dem Wind an, und obwohl er die Absicht hatte, Irland zu meiden, trieb ihn der Wind dorthin.<br />

Da befahl er, gegen den Wind zu rudern, da er befürchtete, wegen der Erschlagung Morolds getötet zu werden, doch da wandelte<br />

sich der Wind zum Sturm 82 , der ihn mit Gewalt dorthin warf. Wieder wählte er einen Decknamen, diesmal Tantris. Um<br />

76 Die folgende Aufzählung ist kulturgeschichtlich interessant, weil sie uns darüber Aufschluß gibt, was als speziell ritterliche<br />

Beschäftigungen bzw. Tugenden und Fähigkeiten galten.<br />

77 wohl wegen der Flucht seiner Mutter.<br />

78 Da Marke Tristran liebte, hätte er, um dessen Leben zu schonen, den Termin für den Ritterschlag sicher nicht mehr rechtzeitig<br />

für den Moroltkampf festgesetzt. Tristrant ist, wie wir sehen, auch in Kleinigkeiten ein Meister der vorausdenkenden List, und<br />

wo zum Erreichen eines (an sich guten) Zieles Unwahrhaftigkeit nötig ist, übt er sie.<br />

79 Der ‚Zweikampf auf einer einsamen Insel’ ist motivgeschichtlich kompliziert; seine Logik in der Tristan-Erzählung jedoch<br />

klar: keines der beiden Heere soll verbotenerweise in den Kampf zugunsten seines Kandidaten eingreifen dürfen, aber trotzdem<br />

den Ausgang sehen können; eine Insel nahe dem Ufer ist dafür der ideale Ort. Klar ist auch seine Logik in der Erzählstruktur:<br />

die Iren hören nicht, was Morolt Tristan verrät, und kommen daher auch nicht auf den Gedanken, Tristan könne nach Irland<br />

kommen wollen, um sich heilen zu lassen.<br />

80 Langes Haar als Zeichen von Adel ist nicht nur, wie hier, ein märchenhaftes Element, sondern in manchen Gesellschaften ist<br />

tatsächlich kurz geschorenes Haar ein Zeichen von Unfreiheit und langes Haar Zeichen von Freheit bzw. Adel.<br />

81 Man soll aus dieser Geschichte nicht schließen, dass auf den Britischen Inseln damals alle Angehörigen der Unterschicht<br />

dunkelhaarig waren, und dass es in Cornwall überhaupt keine blonden Leute gab – man denke in Kategorien des Märchens.<br />

82 Vgl. S. 55 Fußnote 42.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!