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Literaturgeschichte 750-1500

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l’ameir bitter, la meir mer:<br />

der meine der dûhte in ein her.<br />

Er übersach der drîer ein<br />

unde frâgete von den zwein:<br />

er versweic die minne,<br />

ir beider vogetinne,<br />

ir beider trôst, ir beider ger;<br />

mer unde sûr beredete er:<br />

„Ich wæne“, sprach er „schœne Îsôt,<br />

mer unde sûr sint iuwer nôt;<br />

iu smecket mer unde wint;<br />

ich wæne, iu diu zwei bitter sint.“<br />

„Nein, hêrre, nein! Waz saget ir?<br />

Der dewederez wirret mir,<br />

mir ensmecket weder luft noch sê:<br />

lameir al eine tuot mir wê.“<br />

Dô er des wortes z’ ende kam,<br />

minne dar inne vernam,<br />

er sprach vil tougenliche z’ir:<br />

„entriuwen, schœne, als ist ouch mir,<br />

lameir und ir, ir sît mîn nôt.<br />

Herzefrouwe, liebe Îsôt,<br />

ir eine und iuwer minne<br />

ir habt mir mîne sinne<br />

gar verkêret unde benomen,<br />

ich bin ûzer wege komen<br />

sô starke und alsô sêre:<br />

ich erhol mich niemer mêre.<br />

Mich müejet und mich swæret,<br />

mir swachet unde unmæret<br />

allez, daz mîn ouge siht:<br />

in al der werlde enist mir niht<br />

in mînem herzen liep wan ir.“<br />

Îsôt sprach: „ herre, als sît ir mir.“<br />

Dô die gelieben under in<br />

beide erkanten einen sin,<br />

ein herze und ein willen,<br />

ez begunde in beide stillen<br />

und offenen ir ungemach.<br />

letwederez sprach unde sach<br />

daz ander baltlîcher an:<br />

der man die maget, diu maget den man.<br />

Fremd’ under in diu was dô hin:<br />

er kuste si und si kust’ in<br />

lieplîchen unde suoze.<br />

Daz was der minnen buoze<br />

ein sæleclicher anevanc.<br />

letwederz schancte unde tranc<br />

die süeze, diu von herzen gie.<br />

l’ ameir bitter [lat. amarus ‚bitter‘], la meir Meer [lat. mare].<br />

Das dünkte ihn ein ganzes Heer an Bedeutungen.<br />

Von den dreien ließ er eines aus<br />

und fragte nach den beiden anderen:<br />

er verschwieg die Minne,<br />

ihrer beider Schirmherrin,<br />

ihrer beider Trost, ihrer beider Begehren.<br />

Dafür redete er über das Meer und über das Bittere.<br />

„Ich glaube“, sprach er, „schöne Isolde,<br />

das Meer und die Bitternis bereiten Euch Not;<br />

Ihr schmeckt das Meer und den Wind, ich<br />

glaube, diese beiden dünken Euch bitter.“<br />

„Ach nein, Herr, was sagt Ihr? Von den beiden<br />

beschwert mich keines.<br />

Ich rieche weder Wind noch Meer.<br />

Allein Lameir tut mir weh.“<br />

Als er das Wort ganz verstanden hatte<br />

und darin Minne verstand,<br />

sprach er heimlich zu ihr:<br />

„Fürwahr, Schöne, so geht es mir auch.<br />

Lameir und Ihr, ihr bereitet mir Not.<br />

Herzensdame, liebe Isolde,<br />

Ihr allein und Eure Minne<br />

habt mir meinen Verstand<br />

ganz verdreht und geraubt.<br />

Ich bin vom Weg abgekommen,<br />

so sehr,<br />

dass ich mich nie wieder erhole.<br />

mich müht und beschwert,<br />

mir erscheint gering und wertlos<br />

alles was mein Auge sieht.<br />

In der ganzen Welt habe ich nichts<br />

von Herzen lieb außer Euch.“<br />

Isolde sprach: „Herr, und so geht es mir mit Euch.“<br />

Die Geliebten erkannten,<br />

dass sie beide einen Sinn,<br />

ein Herz und einen Willen trugen,<br />

und das stillte ihnen ihr Liebesleid und machte<br />

es ihnen gleichzeitig bewußt.<br />

Jedes von beiden sprach und sah<br />

das andere kühner (balt ‚mutig‘) an:<br />

der Mann das Mädchen, das Mädchen den Mann.<br />

Die Fremdheit unter ihnen war da vorbei:<br />

er küßte sie und sie küßte ihn,<br />

lieblich und süß.<br />

Das war von der Heilung durch die Minne (buoze ‚Gutmachung‘ des von ihr<br />

verursachten Schadens) ein seliger Anfang.<br />

Jedes von beiden schenkte (dem anderen) die<br />

Süßigkeit, die vom Herzen kam ein und trank sie (vom anderen).<br />

Die göttliche Stellung der Minne läßt immer wieder die Frage auftreten, wie Gottfried nun zum Christentum<br />

gestanden sei. Sind die Eucharistie-Verse des Prologs Blasphemie? Und ist die Schelte, die der Dichter in der<br />

Gottesurteil-Szene Christus zuteil werden läßt, vielleicht nicht nur ironische Kritik am Brauch des Gottesurteils 101 ,<br />

der zwar zu Gottfrieds Zeit tatsächlich ausgeübt, aber von höchsten kirchlichen Stellen ohnehin nicht gedeckt<br />

wurde, sondern tatsächlich eine Kritik am christlichen Gott?<br />

Als es ans Gottesurteil geht, läßt sich Isolde von einem armen Pilger, der natürlich niemand anderer ist als der<br />

verkleidete Tristan, vom Schiff an Land tragen. Tristan strauchelt absichtlich und kommt neben die Königin zu<br />

liegen, so dass sie dem König 15710ff. folgenden Eid schwören kann:<br />

Vernemet, wie ich iu sweren wil:<br />

„Hört, wie ich Euch schwören will:<br />

daz mînes lîbes nie kein man<br />

dass nie irgendein Mann die Bekanntschaft (künde)<br />

deheine künde nie gewan<br />

meines Körpers machte,<br />

107<br />

101 Durch das Gottesurteil sollte nicht ein Wunder provoziert, sondern nur festgestellt werden, ob der Angeklagte<br />

im Besitz der göttlichen Gnade war. Krankheiten waren nach allgemeiner Meinung von Gott verhängt. Der<br />

Proband erlitt durch das glühende Eisen Verbrennungen, die kunstgerecht verbunden wurden. Ob die Wunde schön<br />

verheilte oder sich bös entzündete, zeigte dann bei der Öffnung des Verbandes den Zustand der Gnade. Was hier<br />

Gott tut, ist noch mehr; dadurch, dass Isolde sich überhaupt nicht verbrennt, wirkt er ein offensichtliches Wunder.

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