Literaturgeschichte 750-1500
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MITTELHOCHDEUTSCHE LYRIK<br />
ÄLTESTE TEXTE<br />
Aufgabe 1: Suchen Sie eine ganz neue Ausgabe von MF und eine ältere, hg. Karl von Kraus, und sehen sich die<br />
Unterschiede am Anfang an. womit beginnt die eine Sammlung, womit die andere?<br />
Aufgabe 2: Neben der Strophe MF 8,1 (im Skriptum S. 24) steht in den Ausgaben ‚4C‘. Was bedeutet das?<br />
Von den ältesten Dichtern volkssprachlicher Lieder sind meist nur wenige Strophen erhalten, sie zählen aber zum<br />
Besten, das die Weltliteratur an Lyrik hat. Wer schlichte, aber doch kunstvolle Lyrik gern hat, soll unbedingt außer<br />
den hier aufgenommenen Autoren in ‚Minnesangs Frühling‘ ein paar Strophen der ‚Namenlosen Lieder‘, Meinlohs<br />
von Sevelingen, Dietmars von Aist, Berngers von Horheim und Albrechts von Johansdorf lesen.<br />
Dû bist mîn<br />
Was ganz einfache lyrische Schöpfungen betrifft, so empfinden wir hoffentlich genug Scheu, sie nicht zu Tode zu<br />
interpretieren. Trotzdem kann auch ein anscheinend einfaches Gebilde, das wir am besten gar nicht interpretieren,<br />
sondern nur auf uns wirken lassen, Fragen aufwerfen, die dann doch eine Interpretation nötig machen: MF 3,1 7<br />
‚Dû bist mîn ich bin dîn<br />
des solt dû gewis sîn<br />
dû bist beslozzen in mînem herzen,<br />
verlorn ist daz sluzzelîn:<br />
dû muost ouch immêr darinne sîn.‘<br />
Eine Übersetzung ist hier nicht nötig.<br />
Diese Verse stehen als einziger deutscher Teil am Schluss eines lateinischen Liebes- oder besser Freundschaftsbriefes<br />
eines Mädchens an einen Kleriker; die Gedanken des Gedichtchens sind im lateinischen Brief vorweggenommen,<br />
es steht nicht isoliert für sich, sondern als wohlbedachter Höhepunkt. Auch die Zeilen des lateinischen<br />
Textes reimen zum Großteil. Doch ist der Brief nicht in einer geregelten Vers- oder Strophenform abgefasst;<br />
besonders an den inhaltlichen Höhepunkten häufen sich innerhalb der Prosa reimende Wörter. Diese Schreibweise<br />
ist als Reimprosa in der Stilistik bekannt, und im Kontext gesehen gehören wohl auch die zitierten Zeilen noch zur<br />
Reimprosa und stellen nicht ein dem Brief ‚angehängtes‘ Gedicht dar, sondern sind Teil desselben. Der Brief findet<br />
sich als einer von elf Liebes- und Freundschaftsbriefen in einem Sammel-Kodex aus dem Kloster Tegernsee in<br />
Bayern, der wahrscheinlich um 1160 - 1180 entstanden ist, in den nicht nur Briefe, sondern recht<br />
Verschiedenartiges zusammengeschrieben wurde, doch zum Großteil aus Sammlungen echter oder fingierter<br />
Briefe, die Schreibern als Musterbriefe dienen konnten. Unter den Liebes- und Freundschaftsbriefen sind Klagen<br />
von Frauen, die von ihren Freunden verlassen wurden, ein ablehnender Brief einer Dame an einen Magister, der<br />
offensichtlich ein Ansinnen an sie gerichtet hatte (nur keusche Liebe will sie ihm zugestehen), plus Antwortbrief<br />
des Magisters, der weiterhin seine Liebe beteuert, sowie Freundschaftsbriefe unter Damen, die einander ihre<br />
Freundschaft beteuern, sowie drei Briefe, Teile eines Briefwechsels zwischen einer Dame und einem Magister H.,<br />
ähnlich dem zuerst genannten. Die berühmten Verse enthält der erste Brief (anscheinend eine Antwort der Dame<br />
auf einen nicht erhaltenen Brief des Magisters, der sie unter anderem eifersüchtig vor der Liebe von Rittern und<br />
vor Rittern überhaupt gewarnt hat), in dem sie ihn ihrer steten Treue und Freundschaft versichert. Der zweite,<br />
Antwortbrief des Magisters, möchte erst in der Leistung des Werkes (also dem Geschlechtsakt) Erfüllung der<br />
Liebe sehen. Ein als dritter zu denkender Brief der Dame bringt dann zunächst eine grobe Abfuhr; ebenfalls mit<br />
mittelhochdeutschen Einschlüssen, aber nicht poetisch, sondern gegen den Bock, der nach jedem freundlichen Wort<br />
aus dem Mund einer Frau gleich zur Tat übergehen will, schließt aber dann mit zwar distanzierten, aber trotzdem<br />
liebevollen gemischt lateinisch-deutschen Versen.<br />
Die Ausdrucksweise des Gedichtes aus dem ersten Brief ist ganz schlicht und unmittelbar. Sie lässt uns vergessen,<br />
dass das Bild vom Herzensschlüssel eine lange literarische Tradition hat, wir wünschen unserer Nonne, sie<br />
hätte dieses Bild für sich neu erfunden. Wenn das Gedicht von ihr ist, wäre das erste bedeutende Werk deutscher<br />
Liebeslyrik von einer Frau. Vielleicht hat sie aber ein allgemein bekanntes Liedchen als Grundlage ihres Briefes<br />
genommen? Dass der Inhalt des Briefes das Gedicht vorwegnimmt, ist kein Grund dafür, dass er auch früher als die<br />
Verse konzipiert sein muss. Doch unser Hauptfrage ist: wie kommt der heimliche Brief einer Nonne in eine Briefsammlung?<br />
Briefsammlungen gibt es aus allen Epochen und zu verschiedenen Zwecken:<br />
a) Sammlungen von Musterbriefen, so genannte „Briefsteller“ (um 1200: Boncompagno, Rota Veneris)<br />
7 MF = Des Minnesangs Frühling, hg. von Karl LACHMANN und Moritz HAUPT; eine Sammlung der deutschen Gedichte<br />
aus der Zeit vor Walther von der Vogelweide. MF enthält nicht nur, wie der Titel suggeriert, Liebeslyrik, sondern auch Spruchdichtung<br />
und andere kurze „Gedichte“. Die Sammlung wurde seither mehrfach neu bearbeitet, u. a. von Carl v. KRAUS, seit der<br />
36. (!) Auflage, von Hugo MOSER und Helmut TERVOOREN. Damit man bei Zitaten aus älterer Forschungsliteratur weiß,<br />
welches Lied gemeint ist, werden Lieder aus MF immer nach der Seiten- und Zeilenzahl der 1. Ausgabe von 1857 von Karl<br />
Lachmann zitiert. In den Neuauflagen ist für jede Strophe am Rand die Lachmann’sche Seiten- und Zeilennr. angegeben.