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Literaturgeschichte 750-1500

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nen Freundin erforderlich; Geschichte 3 kann also eingebunden werden. Nachdem die Geschichte ‚2+4‘ durch den<br />

Sieg Erecs vorläufig beendet ist, wird sie durch das Vorausreiten Yders an den Artushof wieder zu 1 zurückgeführt<br />

und damit beendet. Geschichte 1 wird mit 3 erst beim Eintreffen Erecs mit seiner Braut am Artushof endgültig<br />

vereinigt und zu einem guten Ende geführt. „Die erste Geschichte ist jetzt beendet“ 56 , sagt Chrestien, nachdem<br />

Artus seinen Kuss erhalten hat; aber der Weg Erecs ist es, wie wir sehen, noch nicht, denn erst als letzte Handlung<br />

wird 3 abgeschlossen: durch die Hochzeit, das nachfolgende Turnier und die Abreise nach Carnant (das Land von<br />

Erecs Vater). Die Geschichten sind ineinander verschachtelt; das Aufbauprinzip des 1. Teiles nennen wir also Verschachtelung.<br />

Durch die ausführliche, breite Schilderung und ihr Dominieren gegen Schluss ist Geschichte 3, die<br />

‚Arme Herberge‘, deutlich als Haupthandlung ausgewiesen; 1, 2 und 4 sind Episoden, die zufällig zur Verwirklichung<br />

von 3 führen. Geschichte 1 steht mit gutem Grund am Anfang, weil zwar, wenn Geschichte 1 beendet ist,<br />

damit das augenblickliche Problem des Artushofes gelöst ist, aber nicht das dahinter stehende grundsätzliche<br />

Problem, dass die Artusgesellschaft anscheinend nicht mehr das alte und noch nicht das neue Verständnis von<br />

Schönheit, Liebe, Ehre und Tapferkeit hat, und sogar ihr vorbildlicher Vertreter Gauvain nicht weiß, wie man<br />

die Schönste ermitteln soll. Doch dass das prinzipielle Problem noch nicht gelöst ist, sagt Chrestien nicht offen.<br />

Aufmerksames Publikum wird es aber wohl merken – sonst könnte die Erzählung als Erzählung von Artus ja gar<br />

schon nach der Kuss-Szene schließen, wo Chrestien die ‚erste Geschichte‘ abschließt. Wenn er weiterschreibt, wird<br />

er wohl Grund dazu haben. Aber am Artushof selbst hat niemand gemerkt, dass das Hauptproblem noch nicht gelöst<br />

ist. Das Sinngebungsdefizit des Hofes ist noch nicht behoben, und dort wird es überhaupt nicht erkannt. Der<br />

Artushof ist berühmt und gilt als vorbildlich wegen der Wahrung alter Bräuche; aber wozu diese Bräuche gut sind,<br />

interessiert niemanden.<br />

Mit der Ankunft in Carnant und der Freude des Königs Lac (und aller Bewohner seines Landes) über die schöne,<br />

liebevolle und höfische Schwiegertochter könnte die Geschichte auch als Geschichte von Erec enden, denn alle<br />

begonnenen Handlungsfäden sind abgeschlossen. „Und so lebten sie glücklich bis an ihr Ende“ könnte hier stehen.<br />

Dass das Ganze aber nur die Vorgeschichte für den 2. Teil, die Bewährung, ist, wurde durch einige in den 1. Teil<br />

eingestreute Bemerkungen über das Verhalten des Paares zueinander vorbereitet. Erec und Enide verhalten sich<br />

zueinander von ihrem Kennenlernen an nicht wie ein Paar von höchster sittlicher Reife. Es ist durchaus vorherzuahnen,<br />

was der künftige Stein des Anstoßes sein wird: die zwar rein und unschuldig genossene, doch im Übermaß<br />

ins Zentrum der Beziehung gerückte körperliche Liebe. Dagegen werden die ritterlichen Normen im Umgang<br />

mit dem Gegner und den Freunden am Artushof schon im ersten Teil erfüllt, wie sich z. B. anlässlich des Turniers<br />

nach der Hochzeit zeigt. Dass Erec und Enide im 2. Teil über den ritterlichen Codex hinauswachsen, ist ein Zeichen<br />

dafür, dass sie mehr erreicht haben, als wir von ihnen fordern konnten; am Ende des 1. bleibt ihre Beziehung noch<br />

deutlich von Unreife geprägt. Das heißt, wir müssen differenzieren: der eigentlich Unreife ist Erec. Ihm fallen die<br />

körperlichen Vorzüge Enides vor ihren charakterlichen auf und er ist es, der bis Mittag im Bett zu liegen begehrt<br />

usw. Enides Makel wird uns offenbar, wenn Erec nur gezwungenermaßen ihren Namen preisgibt und ihre Eltern<br />

noch überhaupt keinen Namen besitzen: Enide entstammt väterlicherseits nicht dem Hochadel und die Mutter einer<br />

Grafenfamilie, der untersten Stufe des Hochadels; außerdem sind sie verarmt. Sie ist zunächst nur wegen ihrer<br />

Schönheit am Artushof willkommen. Was ist ‚schön‘? Dass Gauvain meint, „zu Recht oder Unrecht“ werden alle<br />

Ritter behaupten, ihre Freundin sei die schönste, setzt voraus, dass es ein objektives, im Mädchen gelegenes Kriterium<br />

für Schönheit gibt. Wer entscheidet das? Enide ist nach den Kriterien des Ortes des ‚Turniers um den Sperberpreis‘<br />

die schönste, wo, nach einem archaischen Prinzip, allein die Tapferkeit des Mannes zählt: die schönste Frau<br />

ist die, die den tapfersten Mann hat. Chrestien rationalisiert dieses Phänomen ironisch, indem er den Kampf in<br />

Gegenwart der Damen ausgetragen werden lässt; in den Kampfespausen kann der Ritter seine Freundin betrachten:<br />

der Anblick der Schönheit der Freundin gibt dem Ritter Kraft, sagt er, also schließen wir logisch, wenn die<br />

Schönste ihrem Freund die größte Kraft gibt – wer wird dann siegen? Enide ist aber auch nach den ‚moderneren‘,<br />

ästhetischen und gesellschaftlichen, Prinzipien des Artushofes die Schönste. Für den konservativen Teil des Artushofes,<br />

der auf den Hirsch-Brauch Wert legt, ist der Sperber-Brauch notwendige Ergänzung, die Schönste zu<br />

ermitteln. Was Gauvain als Horror erschien, dass 500 Ritter darum kämpfen, wessen Freundin die schönste sei, ist<br />

in Lalut Gesetz. Enides Schönheit und ihr untadeliges Benehmen zeugen zwar von innerem Adel; den hat sie<br />

schon; das muss sie aber erst beweisen, leider auch vor Erec, der sich anscheinend selbst dessen noch nicht so sicher<br />

ist – sonst würde er ihren Namen nicht verschweigen. Erec hat zwar beim Kampf gegen Yder seine Kraft nicht<br />

nur aus ihrer Schönheit, sondern aus ihrer Liebe und ihrer Schönheit bezogen; er muss also sicher fühlen, dass sie<br />

ihn liebt. Dass, was für ihn gilt, nämlich dass sie ihm eine ebenbürtige Gattin ist, auch für die Gesellschaft gilt, ist<br />

er sich noch nicht sicher. Und dass man jemanden lieben kann, ohne auf beständiger Gegenwart zu bestehen, ist<br />

ihm ganz fremd. Er weiß offensichtlich noch nicht ganz, was Liebe wirklich ist. Er hält es anscheinend für selbstverständlich,<br />

dass Enide, falls sie ihn liebt, gar nichts anderes wünschen kann, als dass er immer bei ihr bliebe.<br />

Wenn dem nicht so ist, muss er an ihrer Liebe zweifeln. Enides Mangel liegt darin, dass sie die Berechtigung ihres<br />

sozialen Aufstiegs vor der Gesellschaft nur durch ihre Schönheit bewiesen hat, und das allein ist zu wenig. Erec ist<br />

56 Einige der Beiträger des Bandes ‚Erzählstrukturen der Artusliteratur’, hg, WOLFZETTEL, haben irrig angenommen, Chrestien<br />

meine damit, hier sei der erste von zwei Teilen des Romans beendet (was natürlich nicht gemeint sein kann) und glauben daher,<br />

das Schema des ‚Doppelten Cursus’ ablehnen zu müssen.

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