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Literaturgeschichte 750-1500

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„Owê, nû ist ez tac“,<br />

als er mit klage pflac,<br />

dô er jungest bî mir lac.<br />

Dô tagte ez.‘<br />

Owê, –<br />

si kuste âne zal<br />

in dem slâfe mich.<br />

dô vielen hin ze tal<br />

ir trehene nider sich.<br />

Iedoch getrôste ich sie,<br />

daz si ir weinen lie<br />

und mich al umbevie.<br />

Dô tagte ez.<br />

Owê, –<br />

daz er sô dicke sich bî mir ersehen hât!<br />

Als erdahte mich,<br />

sô wolt er sunder wât<br />

mîn arme (Konjektur: mich armen) schouwen blôz.<br />

Ez was ein wunder grôz,<br />

daz in des nie verdrôz.<br />

Dô tagte ez.‘<br />

„o weh, jetzt ist es Tag“,<br />

wie er klagte,<br />

als er neulich (‚jüngst‘) bei mir lag.<br />

Da wurde es Tag.‘<br />

O weh,<br />

sie gab mir im Schlaf<br />

zahllose Küsse.<br />

Dabei entfielen (‚zu Tal‘ = ‚hinunter‘) ihr<br />

viele Tränen.<br />

Doch tröstete ich sie,<br />

dass sie zu Weinen aufhörte (‚ihr Weinen ließ‘),<br />

und mich fest umarmte (‚umfing‘).<br />

Da wurde es Tag.<br />

O weh,<br />

daß er sich so oft (dicke) an mir sattgesehen hat!<br />

Als er mich abdeckte,<br />

wollte er meine (sunder ‚ohne‘; wât ‚Kleider‘) unbekleideten<br />

nackten Arme (bzw. mich arme Unbekleidete<br />

nackt) sehen (blôz ‚nackt‘). Es war ein großes Wunder,<br />

daß ihm das nie langweilig wurde (‚ihn dessen nie verdroß‘).<br />

Da wurde es Tag.‘<br />

Das Motivinventar des Tageliedes ist genau beachtet; die Gesetze dieses Genres sind streng. Trotzdem ist dieses<br />

Tagelied etwas Besonderes: die Tageliedsituation besteht normalerweise darin, daß die Liebenden im Morgengrauen<br />

voneinander Abschied nehmen müssen, um von den Wächtern nicht erwischt zu werden. Hier ist der Abschied<br />

schon vollzogen. Die Liebenden denken getrennt voneinander und an einander vorbei, wie es beim<br />

Liedtyp ‚Wechsel‘ üblich ist, wie wir ihn schon bei Strophen des Kürenbergers und Kaiser Heinrich kennenlernten.<br />

Für Morungen charakteristisch ist also nicht so sehr Unerfülltheit der Liebe wie innere Fremdheit bzw. Entfremdung<br />

der Liebenden.<br />

Die zahlreichen Metaphern, die Lichterscheinungen (Glanz, Strahlen, Sonne, Mond ...) und andere visuelle<br />

Elemente enthalten, haben deutliche Parallelen in mystischer Dichtung und Marienlyrik. Das heißt jedoch nicht,<br />

daß die Dame der Lieder Morungens mit Maria gleichzusetzen wäre. Es heißt auch nicht, dass Morungen auf diese<br />

Parallelen verweisen wollte: er will seine Dame auf das Höchste loben und gleichzeitig Distanz ausdrücken, da ist<br />

es selbstverständlich, dass er Metaphern wie ‚strahlend‘ usw. verwendet. Er benutzt aber nie eindeutig auf Maria<br />

bezügliche Metaphern, wie z. B. Walther, wenn er die Kaiserin Maria als ‚Taube ohne Galle‘ bezeichnet. Die Visionen,<br />

die Morungens Sänger hat, sind durchaus areligiös: Die Dame tritt ihm im ‚Venuslied‘ durch die Mauer<br />

entgegen, das könnten wir auch in einer religiösen Vision lesen. Aber er betont, daß seine Liebe die zu der (heidnischen)<br />

Göttin Venus ist und ihn daher das Seelenheil kosten wird. Beiden Formen, der Vision einer verehrten<br />

unerreichbaren Frau und der Heiligenvision, liegt Triebverzicht zu Grunde, der ein Problem der Gesellschaft war,<br />

in der Autor und Publikum lebten. Die Sprache, in der das eine wie das andere ausgedrückt werden konnte, war die<br />

selbe. Aber es sind doch letztlich gegensätzliche Erscheinungen.<br />

REINMAR VON HAGENAU<br />

Das, was in vereinfachenden Darstellungen als ‚eigentlicher‘ Minnesang beschrieben wird, nämlich die Verehrung<br />

einer für den Sänger unerreichbaren, weil sozial hochgestellten Dame, finden wir vor allem bei Rei(n)mar von<br />

Hagenau 21 (so lautet mit Recht sein Name); dem ‚Hoflyriker‘ des Wiener Herzogshofes um 1190-1200. Die Herkunftsbezeichnung<br />

‚von Hagenau‘ erfahren wir durch Gottfried von Straßburg, der unter den nahtegalen (den<br />

Lyrikern) diu von Hagenouwe als ir aller leitevrouwe bezeichnet. Diese, nach Gottfrieds Angabe jüngst verstorbene,<br />

Anführerin der Nachtigallen, der nach Gottfrieds Wunsch Walther im Amt nachfolgen soll, kann nur Reinmar<br />

sein. In Gottfrieds Umkreis, in Straßburg, kann man unter ‚Hagenau‘ nur Hagenau im Elsaß verstehen, nicht etwa<br />

einen gleichnamigen Ort in Oberösterreich. Daß man Reinmar trotzdem mit guten Gründen als Hofdichter in Wien<br />

bezeichnet, der, vermutlich aus dem Elsaß stammend, also der Kontaktzone mit französischer Kultur, hier die neue<br />

französisierende Mode einführen sollte, hat zwar nur einen, aber doch einen guten Grund: Daß Reinmar um 1194<br />

der ‚offizielle‘ Wiener Hofdichter war, erkennt man daraus, daß der Nachruf auf Leopold V., den Vater und Vorgänger<br />

Friedrichs I., der der Witwe (Herzogin Helene) in den Mund gelegt ist und daher ‚Witwenklage‘ genannt<br />

wird, von Reinmar stammt (MF 167,31; MT XVI).<br />

Das Motiv der unerwiderten Liebe übernahm Reinmar von Heinrich von Morungen und wandelte es artistisch ab;<br />

darin war er unübertroffener Meister. Die enorme Größe der Schriftrolle, die die Miniatur der manesseschen<br />

Handschrift Reinmar zwischen sich und seine Dame halten läßt, ist vielleicht nicht nur zufällig damit in Zusammenhang<br />

zu bringen, daß er selbst sich als einer stilisiert, der zu viel redet (MF 165,10):<br />

33<br />

21 Man ist sich einig, daß das Hagenau im Elsaß (heute Frankreich) und nicht das in Oberösterreich gemeint ist.

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