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Literaturgeschichte 750-1500

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hintennach – hat er verschlafen? Chrestien verschweigt den Grund. Jedenfalls scheint Erec ein schlechtes Gewissen<br />

zu haben, sonst hätte er es nicht so eilig. Als er dabei auf die Königin stößt, weiß er nichts Besseres als: „Gnädige<br />

Frau, darf ich Euch begleiten? Nur aus diesem Grund kam ich hierher!“ Die Konventionslüge ist als solche leicht zu<br />

erkennen – er konnte ja gar nicht wissen, dass er auf die Königin stoßen würde – aber sie hat ihren Grund in der<br />

Aufrechterhaltung der Ehre. Wenn ein Kavalier neben der Königin reitet, so hat sie so etwas wie ‚männlichen<br />

Schutz‘. Doch kann ihr den Erec, so wie er ausgeritten ist, bieten? Ritterlichen Schutz nicht, denn da es nicht in<br />

den Krieg geht, trägt er keine Rüstung, sondern nur ein prächtiges Gewand: einen kurzen Rock aus Konstantinopel,<br />

goldene Sporen, und sein Schwert. Sehr hübsch muss er so ausgesehen haben. Ein Schwert ohne Schild ist aber für<br />

einen Kampf nutzlos, man kann es als festliche Staffage benutzen oder als Sexualsymbol betrachten, mehr ist es<br />

nicht. Jagdwaffen führt er auch nicht mit, die Hirschjagd scheint ihn von Anfang an nicht gereizt zu haben. Warum<br />

ist er dann aber den anderen nachgeeilt? Oder ist er vielleicht doch der Königin nachgeritten? Jedenfalls ist die<br />

Situation gefährlich, und die Gefahr lässt Chrestien auch kommen, wenn auch anders, als der Zuhörer vermutet.<br />

Wir erleben den Artushof in einer permanenten Krise. Am Anfang die Wertunsicherheit bezüglich der alten<br />

Bräuche, in der Zwischeneinkehr das unritterliche Benehmen Keus (und auch die List Gauvains!) und das dann<br />

doch nicht wirksame Zauberpflaster (an dessen mangelnder Wirkung wohl Erec durch seinen zeitigen Aufbruch<br />

selbst Schuld trägt; aber es kann nicht darüber hinwegdisputiert werden, dass der Artushof nichts dazu beitragen<br />

kann, ihm zu helfen), und am Schluss die Freudlosigkeit des Artushofes, die erst durch Erec beseitigt wird. Erec ist<br />

zwar Ritter der Tafelrunde und unterstellt sich am Ende freiwillig Artus, aber seine charakterliche Veredelung und<br />

seinen Aufstieg verdankt er diesem nicht. Auf die Wahrung alten Brauches versteht man sich am Ort des Sperberturniers<br />

besser; ritterliche Freundschaft, die die Wunden zu heilen vermag, bietet Guivret; und seine endgültige<br />

Gereiftheit und die Fähigkeit, seine Liebe und seine Verpflichtungen zur Partnerin mit seinem Ansehen in der<br />

Gesellschaft, der Ehre, in Einklang zu bringen, beweist Erec nicht, wie später Iwein, durch einen unentschiedenen<br />

Kampf gegen Gauvain, sondern die Hoffreude stellt er zunächst außerhalb des Artushofes her.<br />

An wichtigen Stationen des Aventüreweges ist der Held einsam, im Wald, fern der Zivilisation. Von dorther<br />

gewinnt er die Ressourcen, die er braucht, um innerhalb der Gesellschaft aufgetretene Probleme lösen zu können.<br />

Die Gesellschaft braucht die Leistung des Einzelnen, aber der Einzelne anerkennt das gesellschaftliche Ideal, indem<br />

er sich freiwillig dem Artushof unterstellt, als dem überlegen er sich gerade erwiesen hat.<br />

Trotz vieler nur aus der politischen Situation um 1170 verständlicher Einzelheiten können wir weder bestimmte<br />

Figuren des Erec mit bestimmten historischen Personen identifizieren, was von vornherein kaum jemand erwarten<br />

wird, sondern wir finden auch keine klare gesellschaftspolitische These Chrestiens. Der Hauptgrund, warum wir<br />

den Erec nicht wie eine Klarsichtfolie über die historischen Ereignisse legen können, ist wohl Chrestiens Dichterpersönlichkeit,<br />

dem seine „schön erzählte Geschichte“ vielleicht mehr am Herzen lag als die zeitgenössische Poliik.<br />

Die Interpretation des Erec als Thesenroman greift viel zu kurz, gleich ob man von der Vordergrundhandlung<br />

ausgeht („Du sollst dich nicht verliegen“ oder ähnlich nichtssagende Interpretationen) oder von einem sozialpolitischen<br />

Programm für die Adelsgesellschaft, bezogen auf einzelne Herrscherpersonen. Trotzdem hat Chrestien nicht<br />

im ‚luftleeren Raum‘ geschrieben, und in dem Leoparden auf Erecs Teppich und auf den Thronsesseln von Artus<br />

und Erec bei der abschließenden Krönungsfeierlichkeit hat man das Wappentier der Anjou-Plantagenets erkannt.<br />

Da Chrestien in späteren Jahren für die Gräfin Marie von der Champagne (Residenzstadt Troyes, Chrestiens<br />

Heimatort) dichtete, hat man sich gefragt, ob der Erec vielleicht zu ihrer Hochzeit gedichtet worden sein könnte.<br />

Doch weder fand ihre Hochzeit in Nantes statt, noch sind die Verbindungen ihres Gatten oder ihrer selbst zu Heinrich<br />

II. eng genug: Sie war zwar seine Stieftochter, nämlich die Tochter Eleonores aus ihrer ersten Ehe mit König<br />

Ludwig VII. von Frankreich, doch war sie nach der Scheidung ihrer Eltern am väterlichen Hof verblieben und lebte<br />

im französischen, nicht im englisch-normannischen Kulturkreis. Verbindungen zu ihrem Stiefvater hat sie keine<br />

besessen. Wenn Erec nach Chrestien „klug“ handelt, von Artus sein Land zu Lehen zu nehmen, nicht etwa aus<br />

Verehrung für ihn, und Artus in Nantes und mit Leoparden am Thronsessel mit Heinrich II. identifiziert werden<br />

muss, möchten wir darin gerne etwas von der Stimmung an Chrestiens Gönnerhof sehen, der zur Abfassungszeit<br />

des Erec nicht unbedingt der Hof von Troyes gewesen sein muss. Abhängigkeit vom englischen König und gleichzeitig<br />

kritische Distanz zu ihm ist am ehesten am Hof zu Nantes möglich, und dorthin werden wir ja auch durch den<br />

Schluss des Romans geführt, und in Nantes Gönner Chrestiens zu suchen, ist möglich.<br />

Die Stadt Nantes ist vor allem mit der Person von Heinrichs II. Bruder, Geoffroy, verbunden. BECKER und<br />

HOFER meinten, Chrestien hätte der Krönung Geoffroys durch Heinrich in Nantes beigewohnt und sie in Dichtung<br />

umgesetzt. Geoffroy ist aber sicher nicht von Heinrich gekrönt worden, im Gegenteil, die beiden Brüder lagen<br />

zeitweise in Krieg miteinander. Doch Heinrich besaß auch einen Sohn namens Geoffroy, dem er nach dem Tod des<br />

Bruders Nantes übertrug (dr Geoffroy hatte übrigens einen Sohn namens Artus). Als dieser jüngere Geoffroy elf<br />

Jahre alt geworden war, hielt Heinrich feierlich mit ihm in Nantes Hof, und zwar zu Weihnachten 1169; etwa zu der<br />

Zeit, in der wir uns heute den Erec entstanden denken. Und dieser elfjährige Geoffroy war zwar zu diesem Zeitpunkt<br />

noch nicht verheiratet, wie Erec, aber immerhin schon seit geraumer Zeit mit der um drei Jahre jüngeren<br />

Constanze, der Tochter des Grafen Conan IV. von der Bretagne (der sich allerdings die Ungnade Heinrichs zugezogen<br />

hatte und 1159 sogar von diesem enteignet worden war), verlobt.<br />

Nun, die Adeligen der Bretagne mussten dem Elfjährigen 1169 den Lehenseid leisten, insofern war der politische<br />

Wert der Feierlichkeit einer Krönung fast gleichzusetzen, und seine Herrschaft über die Bretagne und auch<br />

seine Verbindung mit Constanze hatten Bestand. Geheiratet haben die beiden erst als Erwachsene, 1181, lange nach<br />

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