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Literaturgeschichte 750-1500

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2918: Lac übergibt sofort die Herrschaft an Erec und Enite, vor allem, weil ihm Enite so gut gefällt.<br />

2966: Êrec wente sînen lîp grôzes gemaches durch sîn wîp (wenen ‚gewöhnen‘): E. gewöhnte sich um seiner<br />

Frau willen an große Bequemlichkeit. Die liebte er so sehr, dass er um ihrer einer willen auf die Ehre von allen<br />

verzichtete, so lange bis er sich so verlegen hatte, dass niemand mehr Achtung vor ihm haben konnte. Das verdross<br />

mit Recht Ritter und Knappen bei Hofe. ... Niemand sucht ihn mehr aus fremden Ländern auf, um Freude zu finden.<br />

3007f.: Ouch geruochte 61 si erkennen daz ez ir schult wære ‚auch erkannte sie, dass es ihre Schuld war‘: Enites<br />

Schuld ist also objektive Tatsache, die von ihr erkannt wird, während Chrestien nur ausdrückt, dass es Enides<br />

eigene Meinung ist, dass sie Schuld trägt; Chrestiens Erzähler enthält sich des Urteils.<br />

3079 Erec bricht heimlich auf. Das signalisiert, dass er sich von Schande befleckt fühlt. Bei Chrestien war er<br />

ganz selbstbewußt aufgebrochen, er hatte sogar eigens den Leopardenteppich holen lassen. Hier tut er, als würde es<br />

ein kurzer Spazierritt, und wappnet sich heimlich.<br />

3348: Erec merkt auch die zweite Räubergruppe nicht. Das Spiel mit seinen wechselnden Wachheitszuständen<br />

ist zugunsten einer geradlinigen Entwicklung von ‚versonnen‘ zu ‚klar‘ aufgegeben.<br />

4628: Kei nimmt das Pferd mit Erlaubnis Gawans. Nicht, dass Hartmann Kei besser zeichnen will als<br />

Chrestien; im Gegenteil. Aber während Chrestien und sein Publikum das ‚Ausborgen‘ des Pferdes als einen<br />

schlechten Scherz betrachten konnten, wäre das für Hartmann wohl fast so viel wie Pferdediebstahl gewesen und<br />

hätte Kei jede Ritterehre genommen. Bei Chrstien ist Kei grob, aber es gibt kein Problem der Wahrhaftigkeit. Bei<br />

Hartmann ist er Erec gegenüber außerdem hinterlistig und unwahrhaft; erst bei der Rückkehr zu Artus besinnt er<br />

sich darauf, die Wahrheit über seine Niederlage zu berichten. Vor allem zusätzlich zu der Hinterlist, derer ihn<br />

Hartmann zeiht, wäre das ‚Ausborgen‘ des Pferdes zu viel.<br />

6795: Erec bittet Enite um Verzeihung und gelobt Besserung, sie verzeiht ihm sofort. Bei Chrestien hat er ihr<br />

verziehen. Hartmann macht seinen Erec zu einer Figur, die lernt und, nach anfänglicher Unvollkommenheit, am<br />

Schluß dem Publikum Beispiel für richtiges Verhalten geben kann.<br />

7811: Zur Joie de la Curt gelangt man nicht auf dem Weg zu Artus, sondern Erec und Guivreiz gehen an einer<br />

Wegscheide irrtümlich den breiteren statt des richtigen Weges. Guivreiz möchte umkehren und auf den richtigen<br />

Weg zurück, als er der Burg ansichtig wird, und löst dadurch Erecs Frage aus. Auf der Burg sind auch die achtzig<br />

Frauen der von Mabonagrin Erschlagenen in großer Trauer. Als Erec erfährt, welche Aventüre hier auf ihn wartet,<br />

antwortet er (8521ff.):<br />

ich weste wol, der Sælden wec (Sælden ist Konjektur; die Hs. hat selbe; das gibt keinen guten Sinn)<br />

gienge in der werlde eteswâ,<br />

rehte enweste ich aber wâ,<br />

wan daz ich in suochende reit<br />

in grôzer ungewisheit,<br />

unz daz ich in nû vunden hân.<br />

got hat wol ze mir getân<br />

daz er mich hât gewîset her.<br />

„Ich wußte wohl, irgendwo in der Welt würde der Weg der †Fortuna† verlaufen; ich wußte aber nicht genau wo, und deshalb<br />

bin ich ganz aufs Ungewisse ausgeritten ihn zu suchen, bis ich ihn jetzt gefunden habe. Gott hat mir eine Gnade erwiesen, daß<br />

er mich hierher geführt hat.“<br />

Ein Glückspilz findet das Glück gerade dann, wenn er den von ihm selbst gesuchten Weg verliert. Dass die Joie de<br />

la Curt abseits des Weges zum Artushof liegt, bedeutet, dass auch Erec schon der Meinung ist, für den Artushof<br />

reif zu sein. Die Forderungen, die der Artushof an den Ritter stellt, hat Erec längst erfüllt. Weder nach seiner eigenen<br />

Meinung noch nach der des Artushofes wäre dieses Abenteuer wirklich nötig. Aber was Erec eigentlich gesucht<br />

hat, das findet er hier, und das empfindet er als Werk des (von Gott gelenkten) glücklichen Zufalls, für den er<br />

dankbar ist: er hat hier die Möglichkeit, große Ehre zu erwerben, ohne dass er mehr als sein Leben riskieren müßte.<br />

Der Verbindung von Gott und Fortuna bleibt Hartmanns Erec weiter treu: Hartmann fügt noch ein, dass Erec<br />

morgens vor dem Kampf eine Messe zu Ehren des Hl. Geistes hört, und betet, Gott möge ihm das Leben erhalten.<br />

Nach einem mäßigen Frühstück macht er sich auf den Weg, nicht wie Chrestiens Erec eilig im Morgengrauen.<br />

Erecs Vorbereitung zeigt hier Frömmigkeit, Weisheit und Tapferkeit, die wichtigen Tugenden, im richtigen Maß<br />

zueinander. Es genügt nicht, z. B. tapfer zu sein; das war Erec auch, als er unvernünftigerweise gegen tausend<br />

gleichzeitig kämpfen wollte. Die Mâze Ereks zeigt Hartmann auch an Kleinigkeiten, wie etwa dem mäßigen<br />

Frühstück (drei Bissen von einem Huhn und ein Glas Wein). 62 Dadurch verdient er Gottes und der Fortuna Gunst.<br />

61 ruochen ‚seine Gedanken auf etwas richten’ ist im Mittelhochdeutschen meist ein Füllwort, das man ins Neuhochdeutsche am<br />

besten gar nicht übersetzt.<br />

62 Zunächst erscheint beim Lesen die Stelle nur lustig, bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sie zu den besten gehört, an<br />

denen der Anfänger richtige literarische Interpretation lernen kann: Hartmann verwendet hier nicht das Wort mâze. Aber sonst<br />

gibt er bei keiner Mahlzeit an, wie viele Bissen jemand macht, und schon gar unmittelbar vor einem Entscheidungskampf teilt<br />

uns der Dichter etwas so Unwesentliches mit? Das muss dann etwas Besonderes bedeuten, und wir finden leicht die richtige

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