Literaturgeschichte 750-1500
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Zusammenfassend: Wir wissen über Hartmanns Leben genau so ‚gar nichts‘ wie über Chrestien; sogar der Tod<br />
eines Dienstherrn, der im Kreuzlied (Minnesangs Frühling 218, 19f.) erwähnt wird, ist nur Ergebnis einer Konjektur<br />
und keine erwiesene Tatsache. Doch konnte man beim französischen Vorbild, vor allem mit Hilfe des Prologs,<br />
die gesellschaftliche Gruppe, für die das Werk verfaßt wurde, recht gut abgrenzen, und an Stelle des nicht faßbaren<br />
Autors konnte ein System gesellschaftspolitischer Kräfte treten. Bei Hartmann haben wir dagegen sehr viele persönliche<br />
Aussagen erhalten; die Weltanschauung seines ‚Erzählers‘ dürfen wir viel unbedenklicher mit der des<br />
Autors gleichsetzen. Person und Charakter Hartmanns treten uns trotz fehlender äußerer Biographie viel deutlicher<br />
entgegen, und nach der Lektüre seiner Werke haben wir zumindest den Eindruck, ihn besser zu kennen als wir<br />
Chrestien kennenlernen konnten. Proportional dazu schwindet aber unsere Sicherheit, auch das Publikum, für das<br />
er schrieb, in der Hofgesellschaft an seinem Artushof wiedererkennen zu können, und in den charakteristischen<br />
Abweichungen von Chrestien objektive Verhältnisse an deutschen Höfen im Gegensatz zu den französischen.<br />
Wenn man eine neue Methode in einen Fachbereich einführen will, ist das schon an sich mit Gefahren genug verbunden.<br />
Dann sollte man aber besser nicht ein so ungünstiges Objekt wählen, wie es Hartmanns Erec für literatursozologische<br />
Untersuchungen darstellt.<br />
Was meine oben vorgebrachte Kritik an einigen neueren wissenschaftlichen Arbeiten betrifft: Um einen gebührenden<br />
Maßstab herzustellen, muss vermerkt werden, dass auch auf konventionellen Methoden beruhende, anscheinend<br />
solide Untersuchungen nie vor groben Fehlleistungen gefeit sind. Die bekannteste <strong>Literaturgeschichte</strong> der<br />
fünfziger und sechziger Jahre (Helmut DE BOOR, 2. Bd.) schließt etwa das Kapitel ‚König Artus‘ ab: „Aber sofort<br />
wird uns bei Hartmann der Unterschied zwischen französischem und deutschem Wesen klar. Der Franzose nimmt<br />
diese schöne, ideale Welt hin und formt sie, der Deutsche durchdenkt sie und stößt auf ihre Problematik.“ Ich<br />
denke, ein Kommentar dazu erübrigt sich.