Literaturgeschichte 750-1500
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ist es für ihn undenkbar, dass ein Held durch die Hand einer Frau stirbt, und er erschlägt sie dafür. Mit dem<br />
vollständigen Verlassen der von ihr zunächst gelebten Rolle der Frau ist auch ihr Leben beendet.<br />
So werden drei Frauenbilder vorgestellt:<br />
das moderne höfische, das zunächst das Kriemhilds ist, das Freude der Gesellschaft und Liebe für den<br />
Einzelnen und die Möglichkeit individueller Wahl des Partners durch die Frau mit Unterordnung unter die<br />
patriarchale Herrschaftsordnung zu vereinen versucht (was aber misslingt).<br />
als Gegenkonzept das archaisch-mythische Brünhilds, die die Herrschaft des Mannes nur akzeptiert, wenn er<br />
die Frau zu besiegen vermag. Ihr entspricht auch die Einstellung Siegfrieds, der seinem Kampf im Bett gegen<br />
Brünhild gesellschaftsrelevante, gleichsam mythische Dimensionen gibt und diesen Kampf als Kampf des Mannes<br />
gegen die Frau schlechthin sieht (Strophe 670 in Hs. B): „O weh“, dachte der Held, „wenn ich jetzt durch eine<br />
Jungfrau das Leben verliere, dann dürfen alle Frauen von jetzt an in alle Zukunft gegen ihren Mann aufmüpfig sein,<br />
auch eine, die es sonst nie tun würde.“<br />
unauffällig im Hintergrund das Frauenbild von Kriemhilds Mutter Ute, die ihr eigenes Leben als glücklich<br />
empfindet und aus dem Schutz durch die männlichen Verwandten Sicherheit schöpft. Dieses Frauenbild einer alten<br />
Generation wird durch das neue, zum Scheitern verurteilte Konzept individueller höfischer Liebe und<br />
gesellschaftlicher Freude bedroht.<br />
Die Rolle des Mannes wird von Siegfried, Dietrich, Rüdiger von Bechelaren und Etzel unterschiedlich, und<br />
in jedem Fall abweichend von der Sichtweise des Wormser Hofes gesehen, an dem eine ziemlich einheitliche<br />
Sichtweise von richtig männlichem Verhalten herrscht: Über alles geht die Treue zum Kriegerkameraden; auch<br />
wenn er sich ins Unrecht gesetzt hat, ist er bedingungslos gegen seine Gegner zu unterstützen. Das höchste Ziel des<br />
Kriegers wird am deutlichsten ausgesprochen von Wolfhart, einem jungen Heißsporn unter den Leuten Dietrichs<br />
von Bern: der Nachruhm nach einem Heldentod. Das gewährt ihm das Nibelungenlied auch: Wolfhart erhält von<br />
einem König, Giselher, eine tödliche Wunde, ist aber nicht sofort tot. Da er weiß, dass er gleich sterben wird, ist<br />
Verteidigung sinnlos. Er kann daher den Schild wegwerfen und mit beiden Händen das Schwert packen und so fest<br />
auf Giselhers Haupt schlagen, dass dessen Helm bricht. Giselher ist sofort tot. Wolfhart kann im Sterben noch<br />
sehen, dass ein würdiger Gegner ihn fällte (Giselher ist König, Wolfhart nicht), er selbst sich dafür rächen konnte<br />
und außerdem sein Oheim Hildebrand anwesend ist, der den Nachruhm Wolfharts verbreiten kann. Er stirbt glücklich<br />
(Strophe 2299 in Hs. B). Dagegen beweint Dietrich Wolfharts Tod: dieses Heldenideal gilt nicht für alle.<br />
89<br />
Das Nibelungenlied besteht aus zwei Teilen:<br />
Die Handlung<br />
Im ersten Teil steht Kriemhilds erste Ehe mit Siegfried und Siegfrieds Tod, im zweiten ihre Rache im Mittelpunkt.<br />
Das räumliche Umfeld ist das Burgundenreich am Rhein, sowie (im zweiten Teil) Südostdeutschland und das<br />
Donaugebiet des heutigen Österreichs und Ungarns.<br />
Erster Teil<br />
1. Aventüre:<br />
Am Königshof in Worms lebt Kriemhild mit ihren drei Brüdern Gunther, Gernot und Giselher, die ihre<br />
Vormunde sind, und ihrer Mutter Ute. Wichtige Gefolgsleute der Könige sind Hagen von Tronje, ein Verwandter<br />
der Könige und ihr wichtigster Ratgeber, Hagens Bruder Dankwart und aus deren Verwandtschaft weiterhin<br />
Ortwin von Metz; sowie unter den Hofbeamten der Küchenmeister Rumold. Kriemhild träumt, dass sie einen<br />
Falken aufzieht, den zwei Adler zerfleischen. Ihre Mutter deutet den Traum: der Falke bedeutet einen edlen Mann,<br />
und Kriemhild läuft Gefahr, ihn zu verlieren, wenn Gott ihn nicht beschützt. Kriemhild weist den Gedanken an<br />
Mann und Liebe von sich; sie will bis an ihren Tod jungfräulich bleiben, weil die Liebe schon vielen Frauen Leid<br />
brachte. Die Mutter versucht, sie zu beruhigen und weder den Traum noch die Liebe, die den Menschen glücklich<br />
mache, als gefährlich darzustellen. Trotzdem wird Kriemhild lange Zeit die Liebe ablehnen.<br />
2. Aventüre:<br />
Nun wird Siegfried vorgestellt, der Sohn König Siegmunds und Königin Sieglindes von Xanten am<br />
Niederrhein. Er hat wunderbare Anlagen und wird von weisen Erziehern zu einem vorbildlichen zukünftigen<br />
Herrscher erzogen. Wichtigstes Ereignis in Siegfrieds Jugend: seine Schwertleite (Ritterschlag); das erste der Feste<br />
im Nibelungenlied und das einzige, auf dem alle nur Freude und niemand Leid empfindet.<br />
3. Aventüre:<br />
Siegfried zieht aus, sich ein eigenes Reich zu erwerben und um die alle Werber ablehnende Kriemhild zu<br />
werben, obwohl seine Eltern einwenden, dass das mächtige Wormser Reich nicht eine Prinzessin an das kleinere<br />
Xantener Reich verheiraten würde.<br />
Trotzdem zieht Siegfried mit nur zwölf Gefährten aus und ist sich sicher, dass er Kriemhild – notfalls mit<br />
Gewalt – für sich gewinnen kann. Als er in Worms ankommt, ahnt Hagen, dass der Ankömmling Siegfried ist und