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Literaturgeschichte 750-1500

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gut wie nicht gab, weil der Adelige ständig unter den Augen der Hofgesellschaft lebte, – wenn man an all das erinnert,<br />

zieht man sich den Vorwurf der Ästheten zu, Literatur nur als Dokument für übrigens recht banale historische<br />

Tatsachen zu lesen und nicht um ihrer selbst willen. Doch die hinter der Dichtung stehenden Spannungen, von<br />

denen gerade Wolframs Tagelieder Zeugnis ablegen, nicht vor dem Hintergrund der Epoche sichtbar machen zu<br />

wollen heißt, gerade die Kräfte nicht sehen zu wollen, die diese Literatur gezeugt haben.<br />

Die Lieder Wolframs haben ein neues Licht auf die spannungsgeladene Situation geworfen; was wir jetzt sehen<br />

wollen, sind Charaktere, die diese Situationen bewältigen oder an ihnen scheitern; und die finden wir in der<br />

Epik.<br />

PARZIVAL<br />

Über dieses Werk habe ich ein Buch geschrieben, und will hier keine Kurzfassung davon herstellen. Dafür wähle<br />

ich eine Stelle, die ich im Buch nicht behandle, an der man sieht, wie witzig Wolfram das Wesen des Rittertums<br />

charakterisiert:<br />

In Toledo erfährt Gahmuret (Parzivals Vater), der gerade aus Afrika kommt, dass sein Vetter Kaylet, den er in<br />

Toledo aufsuchen wollte, auf ein Turnier gezogen ist. Königin Herzeloyde von Wâleis (eine Mischung von Wales,<br />

wo bei Chrestien Perceval zu Hause ist, und Valois) hat ein Turnier vor den Toren ihrer Hauptstadt Kanvoleis ausrufen<br />

lassen; der Preis des Turniers soll ihre Hand sein:<br />

Sie was ein maget, niht ein wîp,<br />

Sie war eine Jungfrau, keine Frau,<br />

und bôt zwei lant und ir lîp<br />

und bot zwei Länder und sich selbst<br />

swer dâ den prîs bezalte.<br />

dem, der da den Sieg davontragen würde.<br />

Diz mære manegen valte<br />

Diese Nachricht warf so manchen<br />

hinderz ors ûf den sâmen. hinter sein Pferd auf die Wiese. 66<br />

Die solch gevelle nâmen,<br />

Die so einen Fall taten,<br />

ir schanze was gein flust gesaget.<br />

die hatten ihr Glück verspielt.<br />

swer dâ den prîs bezalte ‚wer immer auch da den Preis bezahlen würde‘: der zu bezahlende Preis ist, dass er den Turniersieg<br />

erringen muss. - prîs ist boshaft doppeldeutig: ‚Preis‘ im Sinne von ‚Lob, Ruhm‘ oder ‚zu bezahlendes Entgelt‘. Man erwartet<br />

zuerst ‚wer den Preis erringen würde‘ und wird dann überrascht, weil bezalte die andere Bedeutung festlegt. - valte Prät. von<br />

vellen ‚fällen‘. - hinderz = hinder daz. - ors ‚Roß‘. - schanze franz. chance ‚Würfel, Glücksspiel‘. - gein kontrahierte Form von<br />

gegen, die Bedeutung von gegen ist ‚in Richtung auf etwas hin‘, nicht ‚entgegengesetzt‘. - flust = verlust. Wenn man die e der<br />

unbetonten Nebensilben verschluckt, erhält man solche Resultate. ‚ihr Würfel war gegen (in Richtung zum)Verlust gesagt‘ =<br />

‚sie hatten im Glücksspiel kein Glück‘.<br />

Gahmuret inszeniert sein Auftreten perfekt. Er wartet vor der Stadt und schickt seinen klugen Meisterknappen<br />

voraus, der eine seines Herrn würdige Stelle zum Aufstellen des Zeltes findet: am anderen Ende außerhalb der Stadt<br />

auf dem freien Feld, wo die Königin und ihre Damen es vom Palast aus sehen können. Das Zusehen der Damen von<br />

einem erhöhten Punkt, also eine Art (Schieds-)richter- und Beurteilerfunktion männlicher Handlungen, darf nicht<br />

übersehen werden; denn auch später beim Turnier erwähnt Wolfram eigens, dass es sich direkt unter den Augen der<br />

vom Palast aus zusehenden Damen abspielt (69,21ff.). Isenharts prächtiges Zelt wird aufgeschlagen und bestaunt,<br />

doch der Besitzer läßt sich Zeit, und man rätselt, wem es wohl gehöre. Als alle neugierig genug sind, beendet Gahmuret<br />

sein Frühstück und zieht von der entgegengesetzten Seite der Stadt her ein (62,21ff.):<br />

Höfslîchen durch die stat<br />

Der Held machte sich daran,<br />

der helt begunde trecken,<br />

höfisch durch die Stadt zu ziehen,<br />

die slâfenden wecken.<br />

die noch schliefen, weckte er dabei auf.<br />

Vil schilde sach er schînen.<br />

Viele Schilde sah er glänzen.<br />

Die hellen pusînen<br />

Die hellen Posaunen<br />

mit krache vor im gâben dôz.<br />

marschierten vor ihm und erschallten laut.<br />

Von würfen und mit slegen grôz<br />

Zwei Tambure warfen ihre Schlegel hoch auf,<br />

zwên tambûre gâben schal:<br />

dass die Trommeln nur so dröhnten.<br />

der galm übr al die stat erhal.<br />

Der Krawall erhallte über die ganze Stadt.<br />

Der dôn iedoch gemischet wart<br />

Dazwischen bliesen aber Flöten,<br />

mit floytieren an der vart:<br />

die mit im Zuge waren.<br />

eine reisenote sie bliesen.<br />

Sie spielten Marschmusik.<br />

Nu sulen wir niht verliesen,<br />

Nun dürfen wir nicht übergehen,<br />

wie ir hêrre komen sî:<br />

wie ihr Herr einherzog:<br />

dem riten videlære bî.<br />

direkt neben ihm ritten Geiger.<br />

Dô legete der degen wert<br />

Da legte der edle Held<br />

ein bein für sich ûfez pfert,<br />

ein Bein vor sich aufs Pferd.<br />

zwên stivale über blôziu bein.<br />

Seine zwei Stiefel trug er über die bloßen Beine.<br />

Sîn munt als ein rubîn schein<br />

Sein Mund leuchtete wie ein Rubin,<br />

von der rœte als ob er brünne:<br />

feuerrot:<br />

der was dicke und niht ze dünne.<br />

der war reichlich dicklippig.<br />

Sîn lîp was allenthalben clâr.<br />

Seine körperliche Erscheinung war überall strahlend.<br />

66 Echt Wolframsche Verkürzung für: ‚auf diese Nachricht eilten viele zum Turnier, wo sie aber nicht siegten, sondern ...’

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