25.12.2013 Aufrufe

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

Literaturgeschichte 750-1500

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

70<br />

der Abfassungszeit des Erec. Trotzdem hätte eine Dichtung des Berufsdichters Chrestien mit einem Inhalt wie dem<br />

‚Erec‘ am Anfang der siebziger Jahre am Hof in Nantes sicher Aussicht auf Honorar gehabt. Und mehr Anspielungen<br />

an das Herrscherhaus, als zur Regelung der Honorarfrage nötig sind, brauchen wir auch von Chrestien nicht<br />

erwarten. Er wollte ja, wie er im Prolog sagt, „so lange die Christenheit besteht“ berühmt sein, und dann dürfen<br />

nicht wesentliche Teile des Werkes nur für Zeitgenossen verständlich sein. Natürlich wissen wir nicht, ob es wirklich<br />

der pekuniäre Gesichtspunkt war, warum Chrestien den Schluss des Erec mit Plantagenet-Symbolen aufputzte.<br />

Doch ist es der einzige plausible, der der Literaturwissenschaft bisher dazu eingefallen ist.<br />

Im politischen Umfeld der Bretagne, wo Heinrich II. zwar formell anerkannt wurde, sich aber allenthalben der<br />

Widerstand regte, auch von seinen eigenen Familienmitgliedern, ist die kritische Distanz zum Artushof – wir haben<br />

von einem ‚schwachen Artushof‘ im Erec gesprochen – besonders gut verständlich.<br />

Da interessiert uns die Rolle des Truchsessen (so heißt dieses Hofamt in Deutschland; etymologisch von<br />

einem längst ausgestorbenen Wort druht ‚Gefolgschaft‘ abgeleitet, ‚der dem Gefolge vorsitzt‘; synchron aber im<br />

Mittelalter als ‚der auf der Truhe sitzt‘ verstanden – der Vorsteher der Gefolgschaft und Verwalter von Geld und<br />

Speisen. In Frankreich Seneschall ‚Altknecht‘; auf Lateinisch dapifer ‚Speisenträger‘): Bei Geoffrey und Wace<br />

kam dem Truchsessen am Artushof eine besondere Rolle zu; der Herzog der Normandie war ausersehen, dieses<br />

Hofamt auszuüben, er wird als besonders vortrefflicher Ritter hervorgehoben und hat eine besondere Stellung am<br />

Artushof. Den Namen aus der keltischen Artussage, den man damit verband, nahm man von Kei, einem besonders<br />

hervorragenden Begleiter von Artus in der keltischen Sage. Dort gehört etwa zu seinen wunderbaren Eigenschaften,<br />

dass sich in einem Wald seine Körpergröße der Höhe der Bäume anpasst und anderes mehr. Warum hatte man<br />

Ursache, am Plantagenet-Hof gerade das Amt des Truchsessen so hervorzuheben?<br />

Wir unterscheiden zwei verschiedene Formen der Hofämter: Das eine sind die von einem Verwaltungsbeamten<br />

tatsächlich ausgeübten Funktionen, ohne die der Herrscher nicht auskam: Jemand musste darauf achten, dass die<br />

Ritter sich nicht ungebührlich benahmen und kein Gesindel unter ihnen war, die Kasse, die Vorräte usw. verwalten,<br />

und dazu waren Personen notwendig, die das Vertrauen des Herrn genossen. Die andere Form des Hofamtes ist die<br />

des Ehrenhofamtes, die ein Vorrecht bestimmter Fürsten ist. Auch in Deutschland hat es solche ‚Ehrenhofämter‘<br />

gegeben. Die höchsten Reichsfürsten (in Deutschland später die Kurfürsten) hatten das Vorrecht, dem König am<br />

Tage der Krönung bestimmte Dienste zu leisten (in Deutschland etwa war später, als die Ehrenhofämter genauer<br />

geregelt waren, der Truchsess des Reiches der Pfalzgraf bei Rhein, Mundschenk der König von Böhmen usw.). Am<br />

Artushof Geoffreys von Monmouth übt der Herzog der Normandie das Amt des Seneschalls aus; den<br />

Normannenherzögen als Vorfahren Wilhelms des Eroberers muss natürlich schon zu Zeiten von Artus eine<br />

besondere Position zugesprochen werden. Heinrich II. verfolgte in diesem Punkt eine ähnliche Politik wie sein<br />

normannischer Großvater mütterlicherseits, dem Geoffrey mit dem Truchsessenamt des Normannenherzogs Kei<br />

geschmeichelt hatte. Er ließ von einem seiner Truchsessen, Hugo von Clers, ein Werk ‚De maioratu et senescalcia<br />

Franciae‘ herstellen, das die Geschichte seiner väterlichen Familie, der Grafen von Anjou, beschreibt, und dessen<br />

Wahrheitsgehalt nicht sehr hoch anzusetzen ist. Dort heißt es, dass die Grafen von Anjou<br />

immer schon erbliche Inhaber der Würde eines Seneschalls von Frankreich<br />

waren. Dass Heinrich II., obwohl englischer König, in seinen französischen Besitzungen formell Lehensmann des<br />

französischen Königs war, konnte er nicht ändern. Doch wollte er wenigstens innerhalb der Lehensleute einen<br />

besonderen Status genießen. Obwohl die Schrift des Hugo von Clers natürlich genau so als ‚Fälschung‘ zu bezeichnen<br />

ist wie die meisten der mittelalterlichen Geschichtswerke, mit denen wir hier zu tun haben, ist Heinrich II. mit<br />

seinen Ansprüchen am französischen Hof durchgedrungen: Als 1169 ein Sohn Heinrichs, der ‚junge Heinrich‘, dem<br />

König von Frankreich als Graf von Anjou und Herzog der Normandie huldigen musste, stimmte Ludwig VII. zu,<br />

dass er bei der Huldigung als Graf von Anjou das Ehrenamt eines Seneschalls von Frankreich ausübe. Der junge<br />

Heinrich zog auch wirklich nach Paris und bediente den König bei Tisch als Seneschall von Frankreich.<br />

Auszug aus dem Stammbaum der englischen Königsfamilie<br />

Wilhelm d. Eroberer<br />

|<br />

Heinrich I.<br />

|<br />

Mathilde (Gatte: Gottfried v. Anjou-Plantagenet)<br />

| |<br />

Heinrich II. (Gattin: Eleonore v. Poitout) Geoffroy<br />

| |<br />

Heinrich 3 (d.J.) Geoffroy (Gattin: Konstanze)<br />

|<br />

Arthur<br />

Chrestiens Keu trägt nun zwar denselben Namen wie der herzogliche Ehrenhofamtsträger bei Geoffrey und Wace,<br />

aber von seiner Funktion ist er mit diesem nicht zu vergleichen: Er ist kein Herzog der Normandie oder eines

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!