Literaturgeschichte 750-1500
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also nicht: bezieht Wolfram sich auf die alten, möglicherweise als schon zu klein empfundenen, oder auf die neuen,<br />
vermutlich prächtigeren Kamine? Froren Wolfram und sein Publikum auf Wildenberg? Wir wissen es nicht.<br />
Mir ist die Antwort auf Fragen dieser Art nicht wichtig. Entscheidend ist mir, dass diese und zahlreiche ähnliche<br />
Einschübe, mit denen Wolfram das Hier und Jetzt in die Erzählung einbringt, das Publikum einerseits aus dem Hier<br />
und Jetzt in die Welt seiner Erzählung transportieren, und dass anderseits jeweils die eine Welt eine Art Maßstab<br />
ist, mit dem die andere Welt gemessen bzw. bewertet wird. Dient die Höhe der Kamine der Gralsburg als Meßlatte<br />
für die Kamine auf Wildenberg oder die Höhe der Kamine auf Wildenberg als Meßlatte für die Kamine der<br />
Gralsburg? In jedem Fall waren, sagt der Erzähler, die auf der Gralsburg die besseren. Bei solchen Vergleichen<br />
muss sich aber nicht immer herausstellen, dass die Ideale, die wir uns machen, um so vieles besser sind als unsere<br />
Realität, weil wir leider zu schwach sind, unsere Ideale zu verwirklichen: möglicherweise sind nicht einmal unsere<br />
Ideale viel wert, und vielleicht sind es manchmal recht glückliche Zufälle, die uns davon abhalten, sie zu<br />
verwirklichen. Kritik ist ohnehin nicht viel wert, wenn sie sich damit begnügt, bloßzustellen, dass wir zu faul<br />
(schwach, unfähig ...) sind, unsere Ideale zu verwirklichen, sondern sie wird erst dann wirklich unangenehm, wenn<br />
auch unsere Ideale selbst vor ihr nicht sicher sind. Nicht alles, was Wolfram in der Welt seines Romans als Ideale<br />
seiner Romanfiguren beschreibt, scheint er uns zur Nachahmung zu empfehlen.<br />
Wir, die wir nicht auf oder in der Nähe von Wildenberg versammelt sind, müssen nun doppelte Arbeit leisten:<br />
zuerst müssen wir uns auf Wolframs Wildenberg versetzen und dann erst können wir mit dem beginnen, was<br />
Wolfram von seinem Publikum verlangt: uns die Gralsburg dorthin oder uns von dort auf die Gralsburg zu denken.<br />
Die Fähigkeiten, die man zur Lösung der zweiten Aufgabe braucht, sollte jeder an Dichtung interessierte Mensch<br />
für sich selbst erwerben; für die erste werden Sie die Hilfe z. B. dieses Bändchens in Anspruch nehmen.<br />
Wenn ich hier das Bild vom Maßstab benutze, dann deshalb, weil er eine Norm repräsentiert, und von ihm ein Soll<br />
abgeleitet werden kann. Viele Dichter benutzen die Welt ihrer Erzählung als eine Art Maßstab für die Realität: die<br />
Figuren der Erzählung leisten dies oder jenes, sind ideal oder jedenfalls besser als die Welt von Autor und<br />
Publikum, und sollten zum Vorbild dienen. Wolfram scheint diese Vorgangsweise manchmal umzukehren: die<br />
Realität scheint ihm manchmal Maßstab für die Figuren der Erzählung zu sein, die sich gar nicht ideal verhalten,<br />
oder er beschreibt beide Welten, ohne zu sagen, welche ihm besser erscheint.<br />
Jedenfalls sind seine Figuren nur zu einem geringeren Grad Beispiele, exempla, dafür, wie man sich verhalten<br />
soll oder nicht soll, als in vielen anderen (nicht nur) mittelalterlichen Romanen, die nicht an der einzelnen,<br />
konkreten Figur und deren Charakter bzw. Charakterentwicklung interessiert sind, sondern die Figuren als<br />
Musterbeispiele dafür begreifen, wie es jemandem ergeht, der so und so handelt. Wolfram betreibt, in literaturwissenschaftlicher<br />
Terminologie ausgedrückt, exemplarisches Erzählen anscheinend nicht als Hauptzweck, und bei<br />
ihm findet sich im Vergleich zu vielen anderen mittelalterlichen Werken (insbesondere Hartmann, dessen Romane<br />
einen hohen exemplarischen Anteil haben) relativ viel Charakterdarstellung.<br />
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Die reiche Literatur zur Wildenberg-Frage referiert KORDT 1997, S. 196-215.