Literaturgeschichte 750-1500
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In der 1. Strophe des vorstehenden Liedes beklagt der Sänger, dass das Publikum seiner dauernden Klagen<br />
überdrüssig ist; in der 2. beklagt er sich darüber, daß das Publikum bezweifelt, daß er seine Dame wirklich so sehr<br />
liebt, wie er vorgibt: Viele Worte erwecken den Eindruck, daß die Klage nicht echt sei (Morungens Sänger meinte,<br />
am liebsten vor Schmerz verstummen zu wollen). In der 3. ringt er sich schließlich zum Lob der Dame durch. Da<br />
auch dieses nicht zur Erhörung führt, beginnt er in der 4. Strophe zu zweifeln, ob er das seiner Dame als Fehler<br />
ankreiden solle oder ob er sie dafür, daß sie weder ihn noch einen anderen Mann erhört, als besonders tugendhaft<br />
preisen soll. Ihm würde aber beides Schmerz bereiten.<br />
Neben diesem Schmerz, den Reinmars Sänger zu empfinden beteuert, zieht er aber auch, im Gegensatz zu dem<br />
Morungens, Befriedigung daraus, daß das Leid, das er empfindet, der Gesellschaft zu ästhetischem Genuß verhilft<br />
(MF 163,5):<br />
Des einen und dekeines mê<br />
wil ich ein meister sîn, al die wîle ich lebe:<br />
daz lop wil ich, daz mir bestê<br />
und mir die kunst diu werlt gemeine gebe,<br />
daz nieman sîn leit so schône kan getragen.<br />
Nur in dem einen und in weiter nichts (mê = mêr ‚mehr‘) will ich Meister sein so lang ich lebe; von dem einen Ruhm will ich,<br />
daß er mir bleiben möge lop ‚Ruhm‘; bestê ‚bestehen möge‘; und daß mich alle (‚die Welt‘) wegen der Kunst rühmen (‚mir die<br />
Kunst zugestehen [‚geben‘]), daß niemand sein Leid so schön tragen kann (wie ich).<br />
Dieses schöne Trauern drückt den Widerspruch aus zwischen dem Gefühl, das die Gesellschaft fordert und dem<br />
Gefühl, das dem Fühlenden unöffentlich gehört (nach Bertau S. 703). Heinrichs von Morungen Sänger wurde<br />
heiser von der Klage; Reinmar aber ist darauf stolz, daß er den Schmerz sublimieren, die Trauer zu vollendeter<br />
Kunst wandeln kann. Dieser Schritt, mit dem er Morungen zu übertreffen vermeint, ist für die meisten von uns ein<br />
Schritt zu viel. Die ‚Ästhetik des Trauerns‘ läßt an der Echtheit des Gefühls zweifeln. Bertaus schöne Formulierung<br />
überkleistert ja, daß nicht nur das Gefühl, das die Gesellschaft will, nämlich ‚Freude‘, sondern auch das, das<br />
der Fühlende unöffentlich empfindet, nämlich ‚Schmerz‘, im Lied gleichermaßen öffentlich werden. Daß die Gesellschaft<br />
aus der Klage des Dichters Freude zieht, ist, in Morungens Interpretation, Mißverständnis, in Reimars<br />
Interpretation letzter Zweck seiner Kunst. Damit ist das Leid des Sängers Reimars aber als ästhetischer Kunstgriff<br />
des Dichters entlarvt. Wir wollen nicht biographisierend behaupten, daß Morungen nur dann gedichtet hat, wenn er<br />
gerade litt, aber er hält diesen Eindruck beim Publikum aufrecht, er versteht es, dieses Gefühl ans Publikum zu<br />
übermitteln. Daher muß sich Reinmar auch den Spott Wolframs gefallen lassen (unten S. 38).<br />
Reinmars Stilprinzip hat sich nicht lange gehalten; schon sein jüngerer Schüler und Konkurrent am Wiener Hof,<br />
Walther von der Vogelweide, hat sich heftig dagegen gewandt. Der Haß dieser beiden großen Lyriker hat sogar<br />
den Tod Reinmars überdauert; Walther kommt in der 2. Strophe seines Nachrufs auf Reinmar (Walther 83,1) auf<br />
den Zwist zu sprechen:<br />
Dêswâr, Reimâr, dû riuwest mich<br />
michels harter danne ich dich,<br />
ob dû lebtest und ich wær erstorben.<br />
Ich wil ez bî mînen triuwen sagen,<br />
dich selben wolte ich lützel klagen:<br />
ich klage dîn edelen kunst, daz si ist verdorben.<br />
Dû kundest al der werlte freude mêren,<br />
sô dû ez ze guoten dingen woltest kêren.<br />
Mich riuwet dîn wol redender munt und dîn vil süezer sanc,<br />
daz die verdorben sint bî mînen zîten.<br />
Daz dû niht eine wîle mohtest bîten!<br />
Sô leist ich dir geselleschaft: mîn singen ist niht lanc.<br />
Dîn sêle müeze wol gevarn, und habe dîn zunge danc.<br />
riuwen ‚schmerzen‘; harte ‚sehr‘; ob ‚wenn‘; lützel ‚wenig‘ (stilistisch meist für ‚nichts‘); kunde Präteritum zu kunnen ‚können‘;<br />
mohte Prät. zu mugen ‚können‘; bîten ‚warten‘; wol ‚gut‘, varn ‚fahren‘.<br />
Fürwahr, Reinmar, du tust mir viel mehr leid als ich dir leid täte, wenn du lebtest und ich gestorben wäre. Ich will es bei meiner<br />
Treu sagen: dich selbst möchte (‚wollte‘) ich nicht beklagen. Ich beklage deine edle Kunst, daß sie mit dir gestorben (‚verdorben,<br />
zugrundegegangen‘) ist. Du verstandest es (‚konntest‘), aller Welt die Freude zu vermehren, wenn du mit deiner Dichtung<br />
gute Absichten verbandest (‚es zu guten Dingen wenden wolltest‘). Mir ist leid um deinen wohlredenden Mund und deinen so<br />
süßen Gesang, daß die noch zu meinen Lebzeiten dahingegangen (‚verdorben‘) sind. Daß du nicht noch eine Weile warten (bîten<br />
‚warten‘) konntest! Dann hätte ich dir Gesellschaft geleistet: mein Singen wird auch nicht mehr lange währen. Deine Seele möge<br />
das ewige Heil erlangen (‚gut fahren‘) und deiner Zunge sei gedankt (‚habe Dank‘).<br />
Walther bezeichnet hier die „Dichterfehde“ als einen rein persönlichen, von der Kunst unabhängigen Streit. Sein<br />
Zorn gilt dem Charakter des Menschen Reinmar, nicht dem Künstler. Daß Walther dem Gegner unterstellt, der<br />
hätte ihn weniger betrauert, wenn er zuerst gestorben wäre, wenn er doch im selben Atemzug zugibt, daß er den