Literaturgeschichte 750-1500
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Wann könnten die Strophen des Kürenbergers entstanden sein? Äußere Anhaltspunkte haben wir nicht, sie sind<br />
nur durch unser Stilempfinden datierbar. Da ist wesentlich, wie wir den Kürenberger relativ zu Heinrichs von Melk<br />
Von des tôdes gehugede (gehügen ‚denken an‘) datieren. Heinrich von Melk schrieb um 1160 seine ‚Gedanken an<br />
den Tod‘ (der übliche lateinische Titel solcher Werke ist Memento Mori ‚Denk ans Sterben‘). 11 Die (fiktive)<br />
Adressatin ist die Witwe eines Ritters, die an der Leiche ihres Mannes steht, die vor dem Begräbnis bereits Spuren<br />
der Verwesung zeigt. Der Prediger warnt, dass die ritterlichen Vergnügungen, die der Verwirklichung irdischer<br />
Freude, also Freude vor dem Tod, dienen, bewirken, dass nach dem Tod die Seele ewiger Verdammnis verfällt.<br />
Zu den irdischen Vergnügungen, gegen die er wettert, gehört auch behagenlîchen trûtliet singen ‚mit Vergnügen<br />
Liebeslieder singen‘. Viele meinen, das sei gegen die Lieder des Kürenbergers gemünzt. Ich halte das Singen von<br />
Liebesliedern in der höfischen Gesellschaft für älter als den Kürenberger, und gerade seine Lieder sind nicht<br />
behagenlîch. Des Kürenbergers Lyrik verstehe ich als eine nuancierte Auseinandersetzung zwischen einerseits alter,<br />
unreflektierter Liebesdichtung, wie sie uns in anonym überlieferten Strophen begegnet, anderseits der neuen,<br />
reflektierenden höfischen Minnediskussion. Das ‚Falkenlied‘ ist nicht Voraussetzung für Heinrichs von Melk<br />
Schelte, sondern zeigt schon den Beginn des reflektierten kritischen Umgangs mit der Minnethematik, also eine<br />
spätere Stufe. Die troutliet, die der Ritter sang, den Heinrich von Melk tadelte, waren sicher die einfachen<br />
anonymen Liedchen, die schon vor 1160 bestanden haben. Der Kürenberger spiegelt jedoch den neuen,<br />
problematisierenden Umgang mit dem Phänomen ‚Liebe‘ und darf daher m. E. nicht so früh datiert werden. Wenn<br />
ich ihn um 1170-1180 ansetze, hätte er in der Jugendzeit Walthers gewirkt, der in seiner ‚Alterselegie‘ auf<br />
Langzeilen zurückgreift, wie sie in seiner Jugend gesungen wurden, die in der Struktur der Kürenbergerzeile<br />
ähnlich sind.<br />
DER ÜBERGANG: DIE HAUSEN-SCHULE<br />
Aufgabe 1: Suchen Sie den Aufsatz von Peter Wapnewski über Kaiser Heinrich. Wie gehen Sie bei dieser<br />
Literatursuche vor? Welche Strategie war schließlich zielführend?<br />
Aufgabe 2: Lesen Sie den genannten Aufsatz und versuchen Sie, den Gedankengang nachzuvollziehen.<br />
Friedrich von Hausen<br />
Friedrich von Hausen stand als Diplomat in Diensten Barbarossas. Vor allem was die Übernahme moderner nordfranzösischer<br />
Elemente in die deutsche Dichtung betrifft, scheint er tonangebend gewesen zu sein. Ein Meilenstein<br />
auf dem Wege der Übernahme französischen Kulturgutes war das Mainzer Pfingstfest Barbarossas 1184, auf<br />
dem, entsprechend der Bedeutung der französischsprachigen Teile des Imperiums, auch ein bedeutender französischer<br />
Sänger, Guiot von Provins, zu Wort kam. Ein Lied Hausens ist nachweislich Kontrafaktur zu einer Melodie<br />
Guiots.<br />
Friedrich von Hausen hat vor allem das Thema der unüberwindlichen Distanz der Liebenden gepflegt, die auf<br />
verschiedene Weise thematisiert wird. Manchmal wird den merkæren (‚Aufpassern‘, zu merken) schuld daran<br />
gegeben, dass der Liebende nicht die Geliebte erreicht. In anderen Liedern wird die Distanz zwischen dem Liebenden<br />
und der Geliebten durch die räumliche Entfernung ausgedrückt; in wieder anderen nutzt der Dichter die<br />
Kreuzzugsthematik, diese Distanz auszudrücken. Dass Friedrich von Hausen als Diplomat an verschiedenen Reisen<br />
Barbarossas und schließlich auch am Barbarossa-Kreuzzug teilnahm, wissen wir, und dass er am 6. 5. 1190 bei<br />
Philomelium fiel. Wenn er den Kreuzzug überlebt hätte und zufällig seine Teilnahme nicht chronikalisch festgehalten<br />
worden wäre, so würde ein Gutteil der Germanisten behaupten, er hätte nie an einem Kreuzzug teilgenommen,<br />
sondern das Kreuzzugsmotiv sei nur poetisches Mittel, die Distanz zur Dame auszudrücken. 12 Dass wir<br />
hier ausnahmsweise einen Beweis für den von uns öfter angenommenen Realitätsbezug haben, beweist freilich<br />
nicht, dass die merkære, ja sogar seine Dame, sich auf derselben Ebene historischer Realität befinden wie die Teilnahme<br />
am Kreuzzug. Man kann durchaus ein fiktives Liebesverhältnis in einen historisch realen Rahmen stellen.<br />
Die Literatur bietet viele Beispiele dafür. Trotzdem wird der Situation des Kreuzzugteilnehmers, der sich<br />
bange fragt, ob seine Geliebte an ihn denkt, Realismus nicht abzusprechen sein; real und realistisch sind allemal<br />
verschiedene Dinge. Merkære, (Italien?)reise, Kreuzzug, aber auch die eigene Schüchternheit (MF 48,32)<br />
sind in seinen Liedern die Hindernisse, die sich zwischen das Ich und seine Dame stellen. Nur in ganz wenigen<br />
Zeilen schimmert die Hoffnung durch, sie könnten überwunden werden, bzw. zeigt sich die Dame dem Ritter gewogen;<br />
der überwiegende Teil ist ganz pessimistisch. Dass die Dame kein Mittel ergreift, ihn zu trösten, lässt die<br />
Liebe sogar in Hass umschlagen: (MF 47,9)<br />
11 Der Autor nennt sich Heinrich und seinen Abt Erkenfried. Obwohl es im 12. Jh. viele Heinriche und mehr als einen Abt<br />
Erkenfried gab, kommt nur Erkenfried von Melk (bis 1163) in Frage, obwohl auch abweichende Ansichten geäußert wurden.<br />
12 Tatsächlich hat der Barbarossa-Kreuzzug einen starken Einschnitt in der Lyrik bewirkt. Auch Hartmann von Aue, der in seiner<br />
Jugend eine Minnelehre verfaßt hat, das sogenannte „Büchlein“, und mehrere Minnelieder, wandte sich nun der religiösen Lyrik<br />
zu. Auch falls für Hartmann der Tod seines Dienstherren der ausschlaggebende Grund für seine Sinnesänderung und Kreuzzugsteilnahme<br />
gewesen sein sollte (die Zeile, die so ausgelegt wird, kann auch ganz anders gelesen werden), ist es eben doch so,<br />
dass auf eine Epoche der Liebeslyrik die Kreuzzugslyrik folgt.